Was der Teekessel summt

Was der Teekessel summt von Else Ury
1920

Winter war’s. Eisiger Winter, fußhoch lag der Schnee auf der Landstraße. Und immer noch wirbelten die dichten Flocken zur Erde hernieder. Der Sturmwind brauste und heulte. Er schüttelte die schneebedeckten Äste der Bäume. Unter seiner Wucht bog und wand sich der alte Lindenbaum, der durch die beschlagenen Scheiben in das verschneite Pfarrhaus lugte, das gar freundlich mit seinen hellen Fenstern in die weiße Landschaft hinausleuchtete. Warm und traulich war es da drinnen; auf weißgedecktem Tisch stand der große Christbaum, seine Kerzen flimmerten, man feierte Weihnacht. Aber die Bescherung hatte noch nicht stattgefunden. Die zierliche Frau Pastor hantierte noch emsig an dem großen Geschenktisch. Hier rückte sie ein warmes Kleid mehr ins Licht. Dort ordnete sie das Märchenbuch und den Laubsägekasten. Und dazwischen lief sie wieder aufgeregt an das Fenster und spähte hinaus.

Nach ihrem Jungen schaute sie, der in der nächsten Stadt die Schule besuchte und heut‘ zum lieben Weihnachtsfeste heimkehrte. »Wo bleibt er nur?« fragte sie ängstlich ihren Mann, der in der heiligen Schrift blätterte. »Kind,« sagte der Pastor lächelnd. »Du hast die Weihnachtslichte zu früh angezündet. Bei diesem hohen Schneefall kommt man selbst mit dem Schlitten nur langsam vorwärts.« Da vernahm man durch das Pfeifen des Sturmes helles Schellengeläut. Immer näher und näher ertönte es. »Viktor kommt,« rief die Mutter, griff nach dem großen Umschlagetuch und lief vor die Haustür. Unter dem alten Lindenbaum hielt der Schlitten. Aber der kleine Knabe, der drinnen saß, sprang nicht fröhlich wie sonst heraus. Langsam und schwerfällig stieg er vom Schlitten. Und als die Mutter nun glückselig die Arme um ihren Jungen schlang, da fühlte sie, wie er vor Kälte zitterte.

»Viktor,« rief Frau Pastor. »Mein armer Junge, du bist ja ganz erstarrt. Geschwind in die warme Stube mit dir, daß du auftaust,« und sie zog ihn ins Haus. Weihnachtlicher Duft von Tannen, frischem Kuchen und Weihnachtskarpfen durchwehte das Pfarrhaus, aber der Kleine merkte nichts davon. Seine Zähne klapperten vor Frost. Die Augen glänzten, und kalte Schauer jagten ihm über den Leib. Keinen Blick hatte er für den flammenden Christbaum! »Junge,« rief der Vater und faßte besorgt nach den Händen des Kleinen. »Du fieberst ja. Du hast dich bei dem eisigen Winde erkältet, geschwind ins Bett mit dir!« Die Mutter brachte ihren Jungen ins Bett. Warme Decken breitete sie sorglich um ihn, stellte den blanken Teekessel vor ihm auf den Tisch, zündete das Spiritusflämmchen unter dem Kessel an und schüttete getrocknete Lindenblüten in die Kanne, denn Lindenblütentee war gut gegen das Fieber. Dann ging sie leise hinaus.

Mit weitgeöffneten, fieberglänzenden Augen lag Viktor im Bett. Eine wohltuende Wärme zog bald durch seinen Körper, wie lustig das Flämmchen unter dem Kessel flackerte! Da begann der Teekessel auch schon zu summen. »Sehen Sie sich vor, Fräulein Lindenblüte,« summte er zu dem Tee in der Kanne. »Gleich komme ich und verbrühe Sie. Seien Sie auf Ihrer Hut.« »Das schadet nichts,« sagte die Lindenblüte lächelnd. »Das ist nun einmal mein Schicksal. Wenn nur der kleine Viktor durch mich wieder gesund wird!« »Das wird er sicher,« nickte der Teekessel. »wWenn ich es sage, dürfen Sie es mir glauben. Kein Mensch hat soviel Spiritus wie ich!« – »Spiritus,« dachte Viktor, der alles mit anhörte, und preßte die Hand gegen die pochenden Schläfen, »Spiritus. Was hieß das doch gleich? Richtig. Es hieß Geist«. Gestern hatte er es erst aus der lateinischen Grammatik gelernt.

»Erzählen Sie mir etwas, Fräulein Lindenblüte,« summte der Teekessel wieder, »eine Geschichte aus Ihrem Leben.« »O,« wehrte die Lindenblüte bescheiden ab, »ich bin noch so jung, vom vorigen Sommer stamme ich erst, Sie haben schon so viel erlebt, Herr Teekessel, Sie verstehen so gut zu erzählen, ich höre lieber zu.« »Schön« – summte der Teekessel, »wollen Sie eine Geschichte hören von Ihrer Heimat, dem alten Lindenbaum?« »Ja – bitte – bitte,« bat die Lindenblüte. Und der Teekessel summte: »Viele, viele Jahre wohne ich nun schon hier in dem Pfarrhaus, fast so lange wie der alte Lindenbaum draußen vor der Tür!«

Damals war Viktors Großvater hier Pastor, und Viktors Vater, der Wilhelm, war dazumal noch ein kleiner Bube. Sie wissen, Fräulein Lindenblüte, ich habe nur im Winter zu arbeiten, im Sommer aber stehe ich schön geputzt auf dem Tischchen vorm Fenster und ruhe mich aus, hin und wieder nur schwatz ich ein Stündchen mit meinem alten Freunde, dem Lindenbaum. Da sah ich oft den kleinen Wilhelm sich mit dem blonden, kleinen Mädchen des Küsters um den großen Lindenbaum jagen, wie ein Reh huschte die Kleine um den dicken Stamm. »Evchen,« rief der Knabe hinter ihr her. – »Evchen,« dachte der kleine, fiebernde Viktor in seinem Bettchen, »Evchen heißt ja mein Mütterlein!«

Doch der Teekessel summte schon weiter: »Aber er konnte sie nicht greifen, und ich stand am Fenster und freute mich über die schnellen Beinchen der kleinen Eva. Eines Tages aber, als sie sich wieder um den Lindenbaum haschten, hielt er sie plötzlich an ihren langen Blondzöpfen fest, und – eins – zwei – drei – gab er ihr einen Kuß. Da aber riß sich das Evchen los, versetzte dem Wilhelm eine schallende Ohrfeige und lief davon. Der Wilhelm rieb sich die brennende Wange, aber der Lindenbaum und ich, wir freuten uns über den Backenstreich – was hatte er auch das Evchen zu küssen? Nun war es aus mit der Freundschaft der beiden; scheu gingen sich die Kinder aus dem Wege, aber als nun der Wilhelm nach der Stadt aufs Gymnasium sollte, kletterte er doch noch vorher auf den Lindenbaum und spähte in den Nachbargarten.

Da stand das Evchen am Zaun. Und als sie den Wilhelm im Lindenbaum erblickte, sprang sie geschwind herüber, um Abschied von ihm zu nehmen. Sie stieg auf die Bank und brach ein blühendes Lindenzweiglein. Das gab sie dem Wilhelm zur Erinnerung mit in die Fremde, und der Knabe hat das Zweiglein gut verwahrt. Wenn der Wilhelm zu den Ferien heimkehrte, wunderten die Kinder sich gegenseitig, wie sie gewachsen. Und auch wir beide, der Lindenbaum und ich, waren erstaunt, wie groß sie wurden. Bald zog der Wilhelm mit der bunten Studentenmütze zur Universität, und als er sein Examen bestanden und heimkehrte, da war Evchen ein schönes, großes Mädchen geworden. Die langen Blondzöpfe hatte sie jetzt um den Kopf gesteckt. Und eines Abends, im Sommer war es, der Lindenbaum blühte gerade, da haschten sich die zwei wieder um seinen Stamm.

Ich wunderte mich sehr darüber, und auch der Lindenbaum schüttelte erstaunt seine Zweige, sie waren doch keine Kinder mehr! Aber wie verwunderten wir uns erst, als der Wilhelm das Evchen wieder erwischte, ihr wieder wie damals einen Kuß gab, und sie sich’s ruhig gefallen ließ und ihm gar keine Ohrfeige gab! Im Gegenteil – sie wurde Wilhelms Braut, und manch liebes Mal saßen die beiden unter dem blühenden Lindenbaum. Und wir zwei, die Linde und ich, wir freuten uns über das junge Paar! Der alte Pastor starb, und Wilhelm wurde sein Nachfolger. Und eines schönen Tages rieb man mein blankes Kleid noch viel glänzender als sonst, und vom Lindenbaum pflückte man die grünen Blätter und wand sie zu Guirlanden, da führte der Pastor Evchen als seine junge Frau ins Pfarrhaus.

Liebevoll säuberte und putzte mich die junge Frau Pastor jeden Tag. Meine schönsten Weisen summte ich zum Dank dafür in den langen Winterabenden. Wenn sie mit der Näharbeit bei der brennenden Lampe saß, und der Herr Pastor an seiner Predigt arbeitete. Ach – war das gemütlich! Und im nächsten Sommer saßen sie unter dem Lindenbaum. Und neben ihnen stand der Kinderwagen, drin schlummerte ein dicker Bube, das war der Viktor hier! Ja, das waren schöne Tage!« summte der Teekessel vor freudiger Erinnerung so laut, daß das Wasser in großen Blasen gegen den Deckel sprang. Da ging die Tür, der Teekessel schwieg. Aber die eintretende Frau Pastor ergriff ihn und goß das kochende Wasser auf die Lindenblüte. Dann flößte sie dem Knaben von dem heißen Tee ein. Und bald schlummerte Viktor sanft.

Der Lindenbaum draußen lugte zum Fenster hinein und freute sich über den sanften Schlummer des Kleinen. Und der Teekessel blickte ganz stolz, denn eigentlich war das doch sein Werk! Am nächsten Tage war der Viktor wieder gesund. Als er am Abend gemütlich mit den Eltern beim summenden Teekessel saß, da horchte er ganz genau zu, aber er hörte nur sum – sum – sum. Ja, nur in der Weihnachtsnacht versteht man, was der Teekessel summt!

Else Ury, Was der Teekessel summt

Die Geschichte finden Sie bei den Weihnachtsgeschichten 2 sowie hier
und eine andere Geschichte hier

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