Vom Christkind

Vom Christkind – Eine Heiligabend-Betrachtung
Heinrich Lautensack

Meiner Stiefgroßmutter

Ich denke an meine Heimat … In einer handschriftlichen Chronik, die aber ganz und gar verschollen ist, soll’s gestanden haben. Eh‘ noch die Stadt staatlich geworden, alsdann wie der Bischof noch über die Stadt regierte, da soll sie quasi nach einem Plan erbaut gewesen sein. Einem solchen, daß kein Haus mit seinen vier Ummauern völlig freistand, vielmehr eins mit dem andern verbunden war, so zwar, daß du von irgendeinem beliebigen Haus aus – immer wieder durch unsichtbare hohle Gänge! – bis ins Palais des Bischofs und geradeaus in dessen Arbeitszimmer gelangen konntest.

Wovon aber kein Bürger etwas wußte – natürlich! – und alleinig der jeweilige Bischof geheimste Wissenschaft besaß. Recte, daß kein einziger Hausbesitzer eine leise Ahnung hatte davon, daß des Tages wie des Nachts zu jeder bewachten und unbewachten Stunde und Minute der Bischof durch eine Tapetentür von jenem Arbeitszimmer aus – ohne einen Fuß auf die freie Gasse oder auch nur auf einen unüberdeckten Hof setzen zu müssen! – durch unsichtbare Hohlwege wie eine unirdische Erscheinung plötzlich im geringsten der Häuser unvermutet auftauchen konnte.

In einer andern, gedruckten Chronik freilich, da steht es schier Seite auf Seite zu lesen, in welch fortwährendem Krieg die freche Bürgerschaft mit dem frommen Bischof gelegen. Und dieses wäre ja ein möglicher Beleg für jenes obige. Indes, es muss verlockend an und für sich sein, an einen solchen echt mittelalterlich anmutenden Stadtbebauungsplan zu glauben. So tut man doch gut daran, ein wenig skeptisch zu sein und lieber zu vermuten, daß, selbst wenn die bischöfliche Gewaltherrschaft über der Stadt von allem Anfang an ein Ähnliches beabsichtigt und auch betrieben hätte, daß selbst dann noch wohl manchesmal es beim bloßen Plan hätte verbleiben müssen. Ich für meine Person mutmaße heute sogar, daß das alles nur eine Legende ist, die sich spät bildete. Darum weil die Stadt früh schon und auch weiterhin immer so aussah. Gerade als ob sie nach einem ebensolchen Grundriß hätte aufgebaut sein können!

Gleichviel aber ging dies Märlein zu meiner Kinderzeit noch sehr um, und – es stand gar nicht anders zu erwarten! Sonderlich um die herannahende heilige Weihnachtszeit sahen wir in dunkeln Winkeln unsrer dunkeln Häuser aus den unheimlich dicken Mauern das dem Bischof vorausleuchtende mystische Licht bereits deutlich durch die Fugen der Quadern scheinen, die sich im nächsten Augenblick in unsäglich verborgenen Scharnieren drehen und öffnen wollten … Die Stadt gleicht von oben, vom Oberhauserberg etwa gesehen, heute noch in ihren Linien – so geheimnisvoll wie die Linien deiner Hand – einer wahren Magie. Und da bin ich wieder in unserm »Wohnzimmer« und stehe an einem unsrer Fenster …

Den rätselhaft dicken Mauern entsprechend, gehen auch alle Fensternischen so eines alten Hauses gar tief. Ja, sie bilden wahre Erker, vorausgesetzt, mein‘ ich, daß du sie dir – umgekehrt nach innen gerichtet denken kannst. Und auch ist es hier immer so ein bißchen erkerlich kühl. Da mag’s im mächtigen Kachelofen zuhinterst förmlich mit Peitschen knallen. Hier vorne ist schier nur was wie das Echo von derselbigen lauten Wärme. Dabei liegt’s zwischen den Doppelfenstern höher als mannesfausthoch aufgeschichtet von Sägespänen. Und darüber breitet sich, gleichermaßen zum Schmuck als zur Warmhaltung, noch dazu eine völlige Decke Moos. Darinnen die kleinen holzgeschnitzten und grün angefärbten Jäger unter den stilisierten Baumkronen das Gewehr auf viel springende braune Hirsche und Rehböcke anlegen … Und dennoch, und dennoch bleibt einem immerdar ein leises Frösteln in so einer Ecke.

Aber schließlich müssen diese vielleicht nur eingebildeten kleinen Frostschauer den kindlichen Rücken hinab nun einmal sein. Sonst wär’s doch wohl nicht das ganz Richtige! Das sind eben die nötigen schauerlich-schönen Stimulantia, ohne die der starrende Winter da draußen kein Winter wär‘ und der große, eisschollentreibende Fluß kein winterlicher Fluß. Wann übrigens mag dieser eine Jäger da im Moos denn umgefallen sein? Daß er, auf dem Rücken liegend, mit immer noch gezücktem Gewehr, gerade wie nach einem hoch in der Höh‘ gedachten schwebenden Luftballon zielt? – Ob das gar wohl ’s Christkindl war? Ei ja! ’s Christkindl wird’s gewesen sein, wie’s gestern am Abend vorbeiflog. Und mit dem blitzenden Widerschein vom goldenen Saum seines Gewandes den Jäger leicht anstreifte.

Selbstverständlich hat das heilige Christkind den Jäger nur ganz leicht, eben nur mit jenem Widerschein vom Goldsaum angestreift! Aber das genügte ja auch schon reichlich! Bei so einem hölzernen Jäger, der ja gar kein richtiger Jäger ist! Das Christkind! Das ist der Wallfahrtsort, zu dem hin alle kindlichen Wünsche reisen! – Das ist das wundertätige Gnadenbild, das selbst vermessenes Begehren stillen soll, sowie »Maria Hilf« eine schlimme Hand heilt! Ach! Wer Weihnachten sich nie viel Dinge gewünscht hat, von denen er von Anfang an genau wußte, daß er sie sämtlich niemals erhalten würde, und wer nie aus diesem Widerstreit heraus und wie sieghaft darüber dennoch für sich erhoffte, daß das allmächtige Christkind diesmal vielleicht ein einzig-einziges Mal eine Ausnahme von der sonst durchgängigen leise-linden Enttäuschung vorbereiten würde, der kennt eine (von mystischen Schatten erfüllte!) Falte am Silberkleid des Christkinds nicht …

Doch dafür hat Gott bei uns Kindern schon gesorgt. Daß vor die feine und leichte Karosserie unsers Herzens die nie aussetzenden Motoren der Phantasie gespannt sind … Und höchstens Kindern von Multimilliardären, die so fabelhaft sind, daß sie überhaupt in keine bestehende Steuerklasse mehr taugen, ist da ein Radschuh lähmend untergelegt … Aber solche Multimilliardärssprößlinge hinwiederum wissen wohl erst gar von keinem Christkind nicht … Es mag ja – überm großen heidnischen Teich – ein paar Kinder geben, die – mögen sie auf ihren Wunschzettel hinschreiben, was sie auch wollen – immer wieder nur treffen, was innerhalb der Grenzen des Erreichbaren liegt … Aber du mein Gott!

Was denn liegt beispielsweise für einen Jungen, der nur ein wenig hellhörig für die häuslichen sorgenvollen Erörterungen zwischen Vater und Mutter ist, denn nicht ganz außerhalb der unerschütterlichen Marksteine des Niezuverwirklichenden? So vertraut dieser seinem zittrig geschriebenen »Brief ans Christkind« den Wunsch nach einer ganz, ganz kleinen Dampfmaschine überhaupt erst gar nicht an und hofft aber desto mehr, daß das Christkind »zwischen den Zeilen lesen« möge.

Und so kommt das so. Daß der Junge in seinem »Brief«, den er am Abend ins Fenster legt und der dann beim Erwachen nicht mehr da ist, immer ein wenig sehr notgedrungener Materialist bleibt. Um sich in seinen Träumen aber um so inbrünstiger dem Christkind gerade wie immerfort zu Füßen zu werfen. Und so beginnt denn – in dieser von religiösen Legenden wahrhaft unterminierten Stadt – ein Kult, der in gleicherweis religiöse Ekstasen ausartet … Und der sich vor Wünschen verkrampfende Herzmuskel des Knaben bewirkt, daß die Augen wie halluzinieren, die ohnehin durch das brennende Starren ins Schneelicht verwirrt und geblendet werden … Zumindest bei jedem viertelstündlichen Glockenton hoch vom nahen Turm scheint die tief graue Luft von lichtgolden blitzenden Streifen durchquert.

Viele Engel vom Himmel eilen dem göttlichen Christkind am hellichten Tage zur Hilfe herbei … Und tief bis in seine Träume hört der Knabe Surren und Rauschen von großen und strahlenden Flügeln … Als ob ich – im selben unsrigen Wohnzimmer in derselbigen alten Stadt – wieder unter all meinen Geschwistern wäre, geradeso ist mir … Oh! Und da gab es ein sehr Kurioses, das – also gesteigert – gleichfalls nur um die vorweihnachtliche Zeit der Fall war … In andern, zumal in nördlicheren Gegenden, glaube ich, ist das lange nicht mehr so sehr im Schwang. Oder bestand diese uraltbayerische patriarchalische Sitte überhaupt nie. Daß es bestenfalls dem jeweils kleinsten von den Kindern – und auch ihm nur, solange es halt noch ganz und gar nicht vernünftig sprechen kann – verstattet sein mag, zu Mutter und Vater du zu sagen.

Bei uns wie bei den unsrigen Nachbarn aber war es von jeher so, daß von dieser Vergünstigung selbst das »Kleine« so gut wie keinen Gebrauch machte. Und das ist leicht erklärlich. Nämlich indem es von uns »Größeren« fortwährend nichts als das ihm weit seltsamere, schon weil weit scheuer hingeredete Sie zu den Eltern hörte und die Auszeichnung, als alleiniges Drauflos-duzen-zu-dürfen, ja noch nicht im geringsten zu würdigen verstand, setzte es vielmehr etwas wie einen gar heftigen Eifer darein, es uns im förmlichen Siezen gleichzutun.

Und so war dies das ganze Jahr über von seiten des jeweiligen Kleinsten (der allerkleinste Nachfolger, der lag meist schon in der Wiege) mehr als ein purer kindlicher Nachahmungstrieb. Ein wenn auch nur unbewußtes, doch bereits fleißig beobachtetes Distanzinnehalten (welches später zur obersten Forderung wird) zwischen Eltern und Kind. Um noch wieviel mehr fiel das dann erst um die heilige Weihnachtszeit auf! Denn zu Weihnacht, da mußten uns ja die Eltern schier noch um einen Kopf größer und fremder erscheinen. Genau so wie uns der Brunnen vorm Haus erhöhter und unnahbarer erschien, seit er, von Stroh umgürtet, hochauf eine Schneekappe trug. Ja, also um Weihnacht mußten uns die Eltern doch noch ragender und ferner vorkommen –

Wie wir es nämlich täglich und täglich vernahmen, daß sie mit dem Christkind »direkt persönlich« verkehrten! Ach! Wenn da Vater oder Mutter von einem Geschäft, von dem wir nichts erfahren durften, nach Hause kamen, dann war uns der Schnee auf ihren Schultern oder in ihrem Haar nicht Schnee – sondern der aus himmlischen Wolken gradaus herabgesandte Beweis dafür, daß sie soeben direkt mit dem Christkind persönlich gesprochen! Nein. Ich möchte diese heiligen Schauer nicht missen, die uns da selbst unsre leiblichen Erzeuger einflößten. Und es ist vielleicht nicht zuviel gesagt, wenn ich behaupte, daß unsre jungen Leiber wohl schier ein wenig asketisch abmagerten vor all den inneren Gesichten, die keine andre Kirchenfestzeit des Jahres in solcher beziehungsreichen Fülle aus unserm Blut aufstehen zu machen vermochte.

So wie jenem Mann in der Mythe erging es uns. Alles um und um, was unser aufgeregter Atem auch nur von fern anhauchte, verwandelte seinen Sinn sogleich in einen goldenen weihnachtlichen. Und dann endlich war Heiligerabend da … Der Vater solle die Kinder doch in Gottes Namen auf die Eisbahn ziehen lassen, bittet die Mutter ein soundsovieltes Mal. Und auf dem Weg mögen sie dann in der Klosterkirche die von dem Englischen Fräulein wunderbar aufgebaute große Krippe ansehen. Nur daß sie mit Gottes Hilfe von hier zu Haus weggebracht sind, indem doch das Christkind noch mindestens zweimal herkommen muß mit allerlei …

Die Straße, die wir trippeln, tanzt von allerlei Leuten. Von jungem Volk, das gleich uns zur Eisbahn geschickt wird. Und von Erwachsenen, die – als ob die ganze Straße lauter Wetterhäuschen wären und in einem fort gar große Witterungsumstürze stattfänden – zur einen Tür herauslaufen und in eine andre schon wieder hinein! Mitten auf dem Weg aber stehen da einmal zwei Uniformierte. Der eine – ein Vizefeldwebel vom Oberhaus, der Militärstrafgefangenenanstalt; der andre – ein Gefängniswärter von der städtischen Fronfeste. Beide – ebenfalls »Christkindl«; militärisch und polizeilich angestellte Christkindl.

Und der eine hat für die eingesperrten Soldaten auf Oberhaus, was auf den Wunschzetteln stand, besorgt: Schnupftücher nämlich und Brasiltabak. Während der andre für die Gerichtsgefangenen in der Fronfeste die Weihnachtswünsche einkaufte: nämlich Brasiltabak und Schnupftücher … In der Klosterkirche der Englischen Fräulein knien wir vor der großen, großen Krippe. Der erbärmliche Stall. Die heilige Familie. Das Christkindl! Herbeieilend die Hirten, von einem Engel gewiesen. Engel in der Höh‘. Und über den Berg hinten nahend schon die heiligen drei Könige, von ihrem Stern geleitet.

Bis zum Dreikönigstag rücken die zentimeterweise mit Dienerschaft und Kamelen und den noch wohlverpackten Schätzen immer näher. Am Dreikönigstag selber endlich sind sie ganz nah und treten in die Hütte ein und haben dann auch ihren Weihrauch, Gold und Myrrhen schon ausgepackt … Wunderschön! … Und wieder geht durch die vexierten Straßen dieselbige Legende von den Bischöfen mit uns mit … Und auf der Eisbahn selber kommt heut‘ keine rechte Freude am Sport auf … Ein paar richtige Gassenjungen ausgenommen, die da herumlärmen … Ich laufe in einem fort nur in einem Kreis, und der Kreis wird immer enger und enger … Und all wir Geschwister bleiben auf der spiegelnden Fläche einander ganz nah. Fiebrig wartend, daß endlich das Älteste das Wort sprechen möge, daß es Zeit sei, zu gehen …

Und wie einer von den rohen Gassenbuben hellauf schreit: Haha! Es gäbe überhaupt gar kein Christkindl nicht! Da ringen wir all unsre schwisterlichen Hände ineinand‘ ob solchem Frevel und fliehen. Fürchtend, das berstende Eis möchte auch uns Unschuldige sonst mitstrafen … Und wie sich zu Haus endlich die seit vielen Tagen verschlossen gewesene Tür vom »schönen Zimmer« (mit dem von innen all die Zeit zugedeckt gewesenen Schlüsselloch) auftut, da vermein‘ ich es heute zu sehen. Unterm Tannengrün im Lichterglanz zwischen spiegelnden Kugeln – sind da nicht flammend schier zwei blutrote Herzen aufgehängt – unsrer Eltern Herzpaar – mit vor Liebe zitternden Fingern aus der Brust genommen und an den Baum getan?

Heinrich Lautensack, Vom Christkind – Eine Heiligabend-Betrachtung

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