Vierte Geschichte: Prinz und Prinzessin
aus: „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen
Gerda musste wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie sass, gerade gegenüber, eine grosse Krähe; die hatte lange ruhig gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopf gewackelt. Nun sagte sie: „Kra! Kra – Gu‘ Tag! Gu‘ Tag.“ Besser konnte sie es nicht herausbringen. Aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und frage, wohin sie so allein in die weite Welt hinausginge. Das Wort allein verstand Gerda sehr wohl und fühlte recht, wieviel darin liegt. Und sie erzählte der Krähe ihr ganzes Leben und Schicksal und fragte, ob sie Kay nicht gesehen habe.
Und die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: „Das könnte sein! Das könnte sein!“ – „Wie? Glaubst du?“ rief das kleine Mädchen und hätte fast die Krähe tot gedrückt: so küsste sie diese. „Vernünftig, vernünftig!“ sagte die Krähe. „Ich glaube, ich weiss; ich glaube, es kann sein; der kleine Kay – aber nun hat er dich sicher über der Prinzessin vergessen.“ – „Wohnt er bei einer Prinzessin?“ frage Gerda. „Ja, höre!“ sagte die Krähe. „Aber es fällt mir so schwer, deine Sprache zu reden. Verstehst du die Krähensprache, dann will ich besser erzählen.“ – „Nein, die habe ich nicht gelernt,“ sagte Gerda. „Aber die Grossmutter verstand sie, und auch sprechen konnte sie diese Sprache. Hätte ich sie nur gelernt!“ – „Tut gar nichts!“ sagte die Krähe. „Ich werde erzählen, so gut ich kann; aber schlecht wird es gehen“; und dann erzählte sie, was sie wusste.
„In diesem Königreich, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz unbändig klug. Aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt gibt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Neulich sass sie auf dem Thron, und das ist doch nicht so angenehm, sagt man. Da fängt sie an, ein Lied zu singen, und das war gerade dieses: ‚Weshalb sollt‘ ich wohl heiraten.‘ ‚Höre, da ist etwas daran‘, sagte sie, und so wollte sie sich verheiraten. Aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstehe, wenn man mit ihm spräche. Einen, der nicht bloss dastände und vornehm aussähe, denn das sei zu langweilig. Nun liess sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. ‚Das mag ich leiden!‘ sagten sie; ‚daran dachte ich neulich auch!‘ –
Du kannst glauben, dass jedes Wort, was ich sage, wahr ist!“ sagte die Krähe. „Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt.“ Die Geliebte war natürlicherweise auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und es bleibt immer eine Krähe.
„Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rand von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, dass es einem jeden jungen Manne, der gut aussehe, freistehe, auf das Schloss zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen. Derjenige, welcher am besten und so spräche, dass man hören könne, er sei in dem, was er spräche, zu Hause, den wolle die Prinzessin zum Manne nehmen.“ „Ja, Ja,“ sprach die Krähe. „Du kannst es mir glauben, es ist so gewiss wahr, wie ich hier sitze. Junge Männer strömten herzu. Es war ein Gedränge und ein Gelaufe. Aber es glückte keinem, weder am ersten nach am zweiten Tag.
Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie draussen auf der Strasse waren. Aber wenn sie in das Schlosstor traten und dort die Gardisten in Silber sahen und auf den Treppen die Lakaien in Gold und die grossen erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt. Und standen sie gar vor dem Throne, wo die Prinzessin sass, dann wussten sie nichts zu sagen als das letzte Wort, das die gesprochen hatte. Und das noch einmal zu hören, dazu hatte sie keine Lust.
Es war gerade, als ob sie drinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Strasse kamen, denn dann konnten sie sprechen. Da stand eine Reihe vom Stadttor bis zum Schlosse hin. Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!“ sage die Krähe. „Sie wurden hungrig und durstig, aber auf dem Schloss erhielten sie nicht einmal ein Glas laues Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten, Butterbrot mitgebracht, aber sie teilten nicht mir ihrem Nachbarn. Sie dachten so: lass ihn nur hungrig aussehen, dann nimmt ihn die Prinzessin nicht!“
„Aber Kay, der kleine Kay!“ fragte Gerda. „Wann kam der? War er unter der Menge?“ – „Warte! warte! jetzt sind wir gerade bei ihm! Es war am dritten Tag. Da kam eine kleine Person, ohne Pferd oder Wagen, ganz fröhlich gerade auf das Schloss zumarschiert. Seine Augen glänzten wie deine. Er hatte schöne lange Haare, aber sonst ärmliche Kleider.“ – „Das war Kay!“ jubelte Gerda. „Oh, dann habe ich ihn gefunden!“ und sie klatschte in die Hände.
„Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken!“ sagte die Krähe. „Nein, das war sicher sein Schlitten.“ sagte Gerda; „Denn mit dem Schlitten ging er fort.“ – „Das kann wohl sein,“ sagte die Krähe. „Ich sah nicht so genau danach. Aber das weiss ich von meiner zahmen Geliebten. Als er in das Schlosstor kam und die Leibgardisten in Silber sah und auf den Treppen die Lakaien in Gold, dass er nicht im mindesten verlegen wurde. Er nickte und sagte zu ihnen: ‚es muss langweilig sein, auf der Treppe zu stehen; ich gehe lieber hinein!‘. Da glänzten die Säle von Lichtern. Geheimräte und Exzellenzen gingen mit blossen Füssen und trugen Goldgefässe. Man konnte wohl andächtig werden! Seine Stiefel knarrten gar gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange.“
„Das ist ganz gewiss Kay!“ sagte Gerda. „Ich weiss, er hatte neue Stiefel an, ich habe sie in der Grossmutter Stube knarren hören!“
„Ja, freilich knarrten sie!“ sagte die Krähe. „Und frischen Muts ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer grossen Perle sass, welche so gross wie ein Spinnrad war. Und alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern und alle Kavaliere mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt. Je näher sie der Türe standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Diener Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen. So stolz steht er an der Tür!“
„Das muss greulich sein!“ sagte die kleine Gerda. „Und Kay hat doch die Prinzessin erhalten?“
„Wäre ich nicht eine Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede. Das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich. Er war nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören. Die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.“
„Ja, sicher! das war Kay!“ sagte Gerda. „Er war so klug; er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! Oh, willst du mich nicht auf dem Schloss einführen?“
„Ja, das ist leicht gesagt!“ antwortete die Krähe. „Aber wie machen wir das? Ich werde es mit meiner zahmen Geliebten besprechen. Sie kann uns wohl Rat erteilen. Denn das muss ich dir sagen: so ein kleines Mädchen, wie du bist, bekommt nie die Erlaubnis, ganz hinein zu kommen!“
„Ja, die erhalten ich!“ sagte Gerda. „Wenn Kay hört, dass ich da bin, kommt er gleich heraus und holt mich.“ „Erwarte mich dort am Gitter!“ sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopfe und flog davon.
Erst als es spät am Abend war, kehrte die Krähe wieder zurück. „Rar! Rar!“ sagte sie. „Ich soll dich vielmal von ihr grüssen, und hier ist ein kleines Brot für dich, dass nahm sie aus der Küche. Dort ist Brot genug, und du bist sicher hungrig. Es ist nicht möglich, dass du in das Schloss hineinkommen kannst: du bist ja barfuss. Die Gardisten in Silber und Lakaien in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht! Du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiss, wo sie den Schlüssel erhalten kann.“
Und die gingen in den Garten hinein, in die grosse Allee, wo ein Blatt nach dem anderen abfiel. Als auf dem Schloss die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe die kleine Gerda zu einer Hintertür, die nur angelehnt war.
Oh, wie Gerdas Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war gerade, als ob sie etwas Böses tun wollte. Sie wollte ja doch nur wissen, ob es der kleine Kay sei. Ja, er musste es sein. Sie gedachte so lebendig seiner klugen Augen, seines langen Haares. Sie konnte ordentlich sehen, wie er lächelte, wie damals, als sie daheim unter den Rosen sassen. Er würde sicher froh werden, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. Oh, das war eine Furcht und eine Freude!
Nun waren sie auf der Treppe; da brannte eine kleine Lampe auf einem Schrank. Mitten auf dem Fussboden stand die zahme Krähe. „Ihre Vita, wie man es nennt, ist auch sehr rührend. Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorausgehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemandem.“
„Es ist mir, als ginge jemand hinter uns,“ sagte Gerda: und es sauste an ihr vorbei. Es war wie Schatten an der Wand: Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.
„Das sind nur Träume,“ sagte die Krähe; „die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, werden Sie ein dankbares Herz zeigen.“
„Das versteht sich von selbst!“ sagte die Krähe vom Walde. „Nun kamen sie in den ersten Saal; der war von rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinau. Hier sausten an ihnen schon die Träume vorbei. Aber sie fuhren so schnell, dass Gerda die hohen Herrschaften nicht zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere; ja man konnte verdutzt werden.“ Nun waren sie im Schlafgemach. Hier glich die Decke einer grossen Palme mit Blättern von Glas, von kostbarem Glase. Mitten auf dem Fussboden hingen an einem dicken Stengel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Die eine war weiss, in der lag die Prinzessin. Die andere war rot, und in dieser sollte Gerda den kleinen Kay suchen. Sie bog eines der roten Blätter zur Seite, und da sah sie einen braunen Nacken.
Oh, das war Kay! Sie rief ganz lauf seinen Namen, hielt die Lampe nach ihm hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube herein – er erwachte, drehte den Kopf und und – es war nicht der kleine Kay.
Der Prinz glich ihm nur im Nacken; aber jung und Hübsch war er. Und aus dem weissen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor und frage, wer da sei. Da weinte die kleine Gerda und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie getan hätten.
„Du armes Kind!“ sprach der Prinz und die Prinzessin; und sie belobten die Krähen und sagten, dass sie gar nicht böse auf sie seien. Aber sie sollten es doch nicht öfters tun. Übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.
„Wollt ihr frei fliegen?“ fragte die Prinzessin. „Oder wollt ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben, mit allem, was in der Küche abfällt?“ Und beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten: „Es wäre gar schön, etwas für die alten Tage zu haben,“ wie sie es nannten.
Und der Prinz stand aus seinem Bette auf und liess Gerda darin schlafen, doch mehr konnte er nicht tun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: „Wie gut sind die Menschen und die Tiere.“ Und dann schloss sie ihre Augen und schlief so sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen, und da sahen sie wie Gottes Engel aus, und sie zogen einen kleinen Schlitten, auf welchem Kay sass und nickte. Aber das Ganze war nur Traum, und deshalb war es auch wieder fort, sobald sie erwachte.
Am folgenden Tag wurde sie von Kopf bis Fuss in Seide und Samt gekleidet; es wurde ihr angeboten, auf dem Schloss zu bleiben und gute Tage zu geniessen. Aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd davor und um ein Paar kleine Stiefel. Dann wolle sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Kay suchen.
Und sie erhielt sowohl Stiefel als auch einen Muff. Sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fort wollte, hielt vor der Tür eine neue Kutsche aus reinem Gold. Des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte an derselben wie ein Stern. Kutscher, Diener und Vorreiter, denn es waren auch Vorreiter da, sassen mit Goldkronen auf dem Kopf zu Pferde. Der Prinz und die Prinzessin selbst halfen ihr in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen. Sie sass ihr zur Seite, denn sie konnte nicht vertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Tür und schlug mit den Flügeln. Sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie eine feste Anstellung und zuviel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitz waren Früchte und Pfeffernüsse.
„Lebe wohl! Lebe wohl!“ riefen der Prinz und die Prinzessin; und die kleine Gerda weinte, und die Krähe weinte. So ging es die ersten Meilen; da sagte auch die Krähe Lebewohl, und das war der schwerste Abschied. Sie flog auf einen Baum und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, so lange sie den Wagen, welcher wie der helle Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.
Hans Christian Andersen, Prinz und Prinzessin
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