Marianne von Ludwig Aurbacher
Nachdem Fritz seine Erzählung geendigt, wurde Minchen aufgefordert, ihre Geschichte vorzutragen. Sie begann, nicht ohne Schüchternheit:
Es wallten jeden Morgen zum Schlosse der Edelfrau eine Menge armer Leute hinauf, jedes Alters und Geschlechts, um in der theuren Zeit das Stücklein Brod zu holen, das die mildthätige Frau auf dem Söller austheilte. Unter den vielen Armen, die da hinauf zogen, war auch ein Mädchen namens Marianne. Die hatte weder Vater noch Mutter mehr. Bescheiden stand sie jederzeit in der Reihe derer, die um Almosen baten, und drängte sich nicht vor. Ältern Leuten ließ sie den Vortritt. Und sie zankte nicht mit den Kindern, die sie bei Seite schoben und zurückdrängten. So war sie denn meistens die letzte, welche das Almosen bekam. Und sie küßte jedes Mal der gnädigen Frau dankbar die Hand für die erhaltene Gabe, die wohl auch meistens reichlicher ausfiel, als bei den andern. Zuletzt fiel die Bescheidenheit und die Dankbarkeit des Kindes der Edelfrau auf.
Sie wollte das Mädchen einer besondern Prüfung aussetzen, um zu erfahren, ob nicht etwa Heuchelei und Eigennutz ihr Benehmen leite. Des andern Tages nun, als Marianne, wie gewöhnlich, die letzte zum Almosen kam, sagte die Edelfrau: „Liebes Kind, es thut mir leid, daß ich dir nichts mehr geben kann. Es ist alles schon weggegeben.“ Marianne ward drob zwar traurig, aber sie küßte dessen ungeachtet der Frau die Hand, als hätte sie etwas empfangen. Dasselbe geschah denn auch so am folgenden Tage. Und auch am dritten erklärte die Edelfrau, sie hätte nichts mehr. Marianne küßte ihr wie jedes Mal die Hand, und ging ruhig ihres Weges. Zu leben hatte das Mädchen diese Tage doch, das mögt ihr denken. Denn die Edelfrau schickte insgeheim täglich Brod und andere Speise ins Haus derer, welche Mariannens Pflegeltern waren.
Als nun aber Marianne zum dritten Male mit leeren Händen davon ging, dankbar und ruhig, da rief sie die Edelfrau zurück, und sagte: „Es gefällt mir an dir, gutes Kind, daß du ohne Murren davon gehest, und ohne Zagen wieder kommest, obgleich du zu dreien Malen nichts erhalten hast. Aber nun sage mir, warum küssest du mir auch jedes Mal die Hand?“
Da antwortete Marianne: „Gnädige Frau, das habe ich deswegen getan: Zum ersten Mal habe ich gedacht: Du hast schon vieles Gute von der gnädigen Frau erhalten. Dafür mußt du jetzt noch dankbar seyn. Zum zweiten Mal habe ich gedacht: Du wirst doch wieder Gutes von ihr erhalten. Dafür mußt du jetzt schon dankbar seyn. Zum dritten Male habe ich gedacht: Und erhältst du auch selbst nichts Gutes, so erhalten es doch andere. Auch dafür mußt du der guten, mildthätigen Frau dankbar seyn.“
Da küßte die Edelfrau Mariannen zärtlich, und sagte: »Du bist ein frommes, liebes Mädchen. So will ich denn Gottes Verheißung an dir wahr machen, die an alle Kinder geschehen, die eines frommen Sinnes sind, daß es ihnen werde wohl ergehen auf Erden. Willst du meine Tochter seyn?« Marianne fiel der Edelfrau weinend in die Arme. Und von der Zeit an wurde sie an Kindes statt gehalten und in christlichem Wandel und in adeligen Sitten auferzogen.
Ludwig Aurbacher, Hirtenbüblein-Marianne-Christgeschenke-Röschen
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