Hellnachtspirschgang

Hellnachtspirschgang von Hermann Löns
1912

In dem Schnabel der alten Tranlampe schwankt das gelbe Flämmchen. In dem Ofen bullert das Holzfeuer; die Mäuse piepen unter dem Estrich. Ich liege in dem Schlafsacke auf der Pritsche, rauche, sehe von der Reimchronik, in der ich lese, ab und zu auf, blicke nach den alten Buntdrucken hin, die an der Wand des Blockhauses hängen, lausche auf das Bohren der Larven in dem Gebälk und denke an den gestrigen Tag. Blutrot ging die Sonne am hellgrünen Himmel auf, wunderbar anzusehen, bis eine schwere dunkelblaue Wolke vor sie trat. Aus ihr sprühte Regen herab, der bald zu Schlackschnee wurde, den der Nordwest über das Bruch trieb. Mit mürrischer Miene pirschte ich durch die wilde Wohld, deren Wipfel im Winde quietschten und knarrten.

Neben mir her schlich die Erinnerung, ein bitteres Lächeln um die engen Lippen, einen Strauß von Dornen und Disteln in den welken Händen. Ihr spinnewebenfarbiges Gewand schleppte raschelnd über die hohen gelben Moorhalme des modrigen Holzweges. Kreuzschnäbel flogen laut lockend dahin. Ein Häher flatterte kreischend vor mir auf. Der Schwarzspecht rief klagend und trillerte seinen Schlechtwetterruf. Dichter fielen die breiigen Flocken, wilder wurde der Wind, unwilliger brummten die Kronen der Fuhre und die Wipfel der Fichten. Dann und wann erscholl aus ihnen ein schneidender Pfiff oder ein knarrendes Stöhnen. Trockene Zweige zerbrachen und faule Äste fielen polternd. Quer über das Hauptgestell flutet der Bach, eine breite Furt mitten im Wege bildend, über den ein schmaler Steg führt. Ich lehnte an dem Geländer und klopfte den Pfeifenrest in das Wasser.

Ein sonniger Maientag fiel mir ein. Hier verlebt, als die goldenen Lilien an dem Ufer blühten und die ganze Wohld von Vogelstimmen schallte. Fahl, wie das faule Laub in dem braunen Wasser, ward mir das Gedenken an jenen Tag. Rauh rief der Kolkrabe über den Kronen der Fuhren. Der Wind warf mir nasse Flocken in das Gesicht. Ängstlich lockten im Gezweige der Fichten die Haubenmeisen, schüchtern zirpten im dunklen Geäste die Goldhähnchen. Hohl heulte der Wind und verdrossen murmelte der Bach neben dem Wege her, der sich im Brandmoore verlor. Da sah es düster und verlassen aus. Schwarz und gespenstig ragten aus fahlen Halmen verkohlte Stämme. Ich stand und starrte auf die Baumgruppen, meine Gedanken sahen ebenso schwarz und tot aus wie sie. Ein hohler Husten kam hinter dem verrottenden Farn zu meiner Rechten.

Ich nahm Deckung hinter einer krausen Fuhre und wartete, bis das vom Lungenwurm befallene Schmahlreh an mir vorbeizog. Jämmerlich sah es aus, ruppig und abgekommen. Ich schoß es auf den Hals, brach es auf und zog es quer über den Brandplan nach dem Hochsitze hin. Des Fuchses wegen, den ich damit anludern wollte. Denn das Wildbret war ungenießbar. Dann saß ich unter der Schirmfichte und aß unlustig. Ich ging ohne Freude weiter über feuchte Wege zwischen nassen Dickungen hindurch, pirschte am Bache entlang durch die Wohld, Müdigkeit in den Gliedern, benommen im Kopfe. Und immer schlich die Erinnerung neben mir her und seufzte und stöhnte. Mit der Dämmerung, die früher da war als sonst, kam ich in das Blockhaus. Ich aß und las und rauchte und kroch bald in den Schlafsack.

Aber die geladene Luft ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Peinliche Träume quälten mich; sie verquirlten die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zu albernen Bildern und abgeschmackten Vorstellungen. Um Mitternacht fuhr ich in die Höhe; himmelblaues Feuer erfüllte den Raum und ein furchtbarer Donnerschlag erschütterte das Blockhaus. Ich wollte aus dem Schlafsacke heraus. Aber abermals war das hellblaue Licht da und mit ihm ein Schlag, daß die Teller und Töpfe in dem Wandborde klirrten. Ich fuhr in die Schuhe, warf den Mantel um und öffnete die Tür. Mit gellendem Hohnlachen riß der Sturm sie mir aus der Hand, warf mir eine Schneewolke in das Gesicht und schlug die Tür wieder zu. Ich zog mich gänzlich an, während Blitz auf Blitz zuckte und Donner auf Donner krachte, und trat vor das Haus.

Wagerecht trieb der Schnee und so dicht, daß er wie ein weißes Bettlaken anzusehen war. Und doch sah ich alle Augenblicke die Wettertanne vor dem Bruche, den Wald dahinter und die hohe Geest, so schnell folgten sich die Blitze. Ich zog die Mantelkappe um das Gesicht und lachte in das Winternachtgewitter hinein. Immer böser klang der Donner, immer bitterer sein Widerhall. Von dem Walde her kam ein Weinen und Winseln, und ein Stöhnen und Ächzen, so mißhandelte der Sturm ihn.

Rossegeschnaube hörte ich daraus, das Geläute der Meute, Hörnerklang und Peitschenknall. Ich sah den Helljäger dahinreiten, die Saufeder in der Hand. Über seinem Hute flatterten die Raben, vor seinem achtfüßigen Schimmel hechelten die Grauhunde. Er warf den Jagdspieß, daß es blitzte, und juchte die Meute an, daß es donnerte. Ich rief ihm Weidmannsheil zu, gellte ihm ein Horüdhoh nach und wünschte ihm ein froh Gejaid. Dann flammte es an der Wetterfichte hinunter; eine Fackel wurde aus ihr. Rot wehte sie aus dem weißen Gestöber heraus. Und abermal fiel Feuer vom Himmel und die Krone der Hudeeiche flog auf den Bruchweg. Und beim dritten Male loderte der alte Schafstall auf und stand in hellichter Glut. Ein Fluchwort klang, ein Pfiff schrillte, eine Verwünschung gellt aus den Wolken nach mir hin.

Ich gedachte, daß Wode keine Zeugen aus Fleisch und Bein haben will, weidwerkt er in den heiligen Zwölfen. Scheu trat ich zurück und schloß die Tür hinter mir. Als die Uhr auf eins zeigte und die Stunde vorüber war, die dem toten Gotte gehört und seiner verblichenen Getreuschaft, brach das wilde Wetter ab. Als ich dann spät erwachte, war alles weiß, das Bruch und die Wohld und die hohe Geest hinter ihm. Heller Sonnenschein lag auf dem blanken Lande. Nun steht der Mond über dem Bruche und die Sterne haben sich zu ihm gesellt. Taghell leuchtet es in das Türloch hinein. Die Luft trägt den Klang des Weihnachtsläutens vom Dorfe heran. Ich sehe nach der verkohlten Wettertanne; das ist mein Weihnachtsbaum, dieses nackte schwarze Baumgespenst.

Der Mond schmückt die Astzacken mit hellen Lichtern; doch kein rotbäckiger Apfel lacht daran und nicht eine einzige goldene Nuß. Die Weihnachtsglocke ist verstummt; Hundegeheul, langgezogen und unheimlich, tönt herüber. Der Mond sieht mir gerade in das Gesicht. Ich merke, was er will. Ich ziehe das weiße Zeug über, setze die weiße Kappe auf, pudere mir das Gesicht ein, binde die indianischen Schneeschuhe unter die Sohlen, schlage das Fernrohr auf den Drilling, streife die weißen Wollhandschuhe über, stecke die Pfeife an und schlurfe in das Bruch hinein, in das weiße, weite, schweigende Bruch.

An Machangelbüschen komme ich vorüber, die wie Gespenster in Totenhemden aussehen, überschreite den Steg, unter dem der Bach gluckst und schluckst, sehe die Rehe mit dunklen Schatten über die helle Wiese ziehen, und stehe dann vor dem Fuhrenwald, der sich gestern noch stolz und geschlossen erhob. Heute ist er nur noch halb da. Kreuz und quer liegen die Stämme da, aus dem Boden gerissen oder mitten abgebrochen. Schlimm hat der Sturm hier gehaust. Ich umgehe die Wohld, in der es weder Weg noch Steg gibt, und schleiche zwischen ihm und der Heide entlang. Bei dem großen Findelstein bleibe ich stehen und spähe an der Dickung entlang.

Vier schwarze Gestalten treten aus ihr heraus und ziehen über den weiße Plan; Rotwild ist es, das zu Felde will. Eine Viertelstunde verhoffen sie und sichern. Dann trollen sie der Feldmark zu. Sobald sie außer Sicht sind, gehe ich weiter, bis die Dickung zur Linken und die Wohld zur Rechten die Heide ablösen. Totenstille ist um mich; mir ist, als hörte ich die Einsamkeit atmen. Wenn dann und wann ein Schneeklumpen von einem Aste rutscht, so ist das weithin vernehmlich. Ich schlurfe so leise wie möglich dahin. Bei jedem Quergestell stehen bleibend und es abspähend, ob nicht ein Stück Wild darauf steht, und inzwischen die Fährten und Spuren musternd, die auf dem verschneiten Knüppeldamm stehen. Ich suche die Fährte der groben Sau, hinter der ich nun schon eine ganze Weile her bin. Aber nur Rotwild spürt sich, und Rehzeug, Fuchs und Hase, und hier an der Brücke der Edelmarder.

Langsam schliere ich dahin, von meinem Schatten begleitet. Meine Gedanken sind nicht so grau und trüb wie gestern. Kühl sind sie nun, still und eben, wie die verschneite Heide vor mir. Ich lege den Rucksack auf den Irrstein, setze mich darauf; zünde meine Pfeife an und harre. Eine Eule streicht lautlos an der Wohld entlang und kommt nach einer Weile zurück. Ich mäusele sie heran. Hart bis vor mein Gesicht schwebt sie, so daß ich ihre Augen sehen kann. Dann schwenkt sie um mich herum und verschwindet. Nach einer Weile höre ich es hinter mir verstohlen und leise brechen und dann auf einmal hastiger und laut. Das wird der Fuchs gewesen sein, der auf das Reizen herangeschlichen ist und Wind bekommen hat. Eine Ricke mit ihrem Kitz überfällt den Graben und zieht durch das Heidfeld; seltsam groß sehen die beiden aus.

Bei dem stillen Passen schweben, wie dunkle Nachtvögel, schwarze Gedanken zu mir her. Ich hänge den Rucksack wieder um und schlurre quer über die Heide. An ihrem Ende steht die Fähre der Sau an der Dickung heraus und nach der Wohld zu. Ich suche die nächste Brandrute und tauche in der Wildnis unter. Zweimal hat der Keiler den Weg gekreuzt. Hinter der Brücke mache ich halt, denn ich höre es zur linken Hand laut brechen. Ich warte und warte. Doch das Geräusch verstummt. Ich fahre weiter durch die schweigende Wald, bis plötzlich weit vor mir ein schwarzes Ding auf der Bahn steht, einen Augenblick verhofft und in das gegenüberliegende Jagen trollt, dort laut brechend.

Das ist der Keiler; er nimmt den Wechsel auf das Brandmoor zu. Findet er die Ricke, die ich gestern von ihrer Qual erlöste, so kann er vielleicht mein werden. Vor dem Moore schreckt ein Altreh mit grober Stimme anhaltend, und jetzt hell ein Schmalreh. Sie haben Wind von der Sau bekommen. Das Schmälen verliert sich nach dem Bruche zu. Eilig, aber mit aller Umsicht, fahre ich dem Hauptgestelle zu und auf ihm entlang. Einmal muß ich lang anhalten. Denn ein Rottier mit seinen beiden Kälbern steht vor mir auf der Bahn und äst sich an den Brombeeren. Nach einer Viertelstunde erst treten die drei Stücke in den Bestand, und ich kann weiterschleichen. Bei der Findelsteinbrücke maust der Fuchs. Leicht könnt ich ihm die Kugel antragen.

Aber ich denke an den Keiler und lasse den Rotrock aus, der, wie ich näher komme, einem Augenblick sichert und dann mit einer Flucht in der Dickung verschwunden ist. Je näher ich dem Moor komme, um so langsamer und leiser trete ich. Und immer wieder merke ich darauf, ob mein Atem auch nicht umschlägt und mir zeigt, daß die Luft hier falsch zieht. Aber er bleibt stetig hinter mir und so kann ich vor dem Ende der Bahn das Moor erspähen. Da sieht es heute noch unheimlicher aus als gestern, denn gespenstig starren die schwarzen Baumgerippe aus dem Schnee heraus. Von dem stärksten der toten Stämme löst sich ein schwarzer Klumpen ab. Die Eule ist es. Sie schwebt über die Blöße, wendet aber so plötzlich und streicht so eilig davon, daß ich fühle, dort muß irgend etwas sein, das sie vergrämt hat.

Jetzt höre ich auch ein Brechen, und ein Blasen und ein Schmatzen, und sehe einen schwarzen Klumpen. Die Sau hat das Luder angenommen und tut sich gütlich daran. Ich wage einen Gang voran und bleibe aufatmend stehen; die Sau hat mich nicht vernommen. Ich wage noch einen Schritt, und noch einen, nach jedem ein Weilchen verharrend. Doch die Sau ist so eifrig bei dem Fräße, daß ich bis zu der Eiche kommen kann. Nahe genug bin ich; doch ich kann nicht erkennen wie der Keiler steht. Und so warte ich und warte, bis endlich ein Windhauch die Zweige rührt, ein Schneeklump herunterrutscht, die Sau einen Augenblick verhofft und ich deutlich sehen kann, daß sie mir das rechte Blatt halb von hinten weist.

Ich besinne mich nicht lange, streiche an der Eiche an, suche bis ich die Spitze des Zielfernrohrkreuzes hinter dem Blatte habe, und steche ein. Bei dem leisen Knicken des Abzuges hat die Sau das Gebräch hoch und verhofft, behält aber ihre Stellung. So lasse ich fahren, sehe schnell hinter dem roten Feuerstrahl her, kann aber nichts erkennen. Ich höre den Keiler nur abgehen, daß es kracht und knastert. Ich nehme das Fernrohr von der Waffe, lade den leeren Lauf, spanne wieder und warte ein Weilchen. Dann gehe ich vorsichtig auf den Anschuß, aufmerksam um mich blickend. Von dem Reh ist nicht viel mehr da als Kopf, Rücken und Läufe. Und so zertreten und verschmiert ist der Schnee, daß ich vergebens nach Schußzeichen suche. Aber in der Fährte liegt Schweiß, guter heller Schweiß, einen regelrechten Lungenschuß anzeigend.

Schritt vor Schritt rücke ich vor bis an die halbausgebrannte Dickung, in die die Rotfährte hineinführt. Dann stehe ich und lausche, ob ich kein Brechen oder Blasen höre. Doch ich vernehme nichts, und so umschlage ich die Büsche, bis ich die Fährte wiederhabe, die nach dem Bruche zusteht. Schneller darf ich hier vorwärtsgehen. Denn bis vor das Bruch habe ich die Wiese, die blank und klar da liegt bis auf wenige Weidenbüsche darin. Sobald die Fährte aber auf eine davon zusteht, werde ich langsamer und sehe schärfer zu. Damit die Sau nicht unversehens vor mir ist und mich annimmt. Nun ist die Wiese bald zu Ende; dann beginnt das Bruch und darin wird die Nachsuche schwerer und gefährlicher.

Ich überlege, ob ich nicht lieber zur Jagdbude hinrutschen, schlafen und frühmorgens mit dem Jagdhüter und dem Hunde nachsuchen soll. Da bekomme ich vor dem Staugraben einen schwarzen Fleck zu Blick, auf den die immer mehr Schweiß zeigende Fährte zusteht. Das wird die Sau sein. Ganz langsam rücke ich vor, den Dreilauf schußfertig in der Hand. Doch die Wundfährte führt im Bogen abseits, über den Staugraben hinweg. Sie steht steil auf das Bruch zu, wendet dann aber und hält doch auf den schwarzen Klumpen zu. Da endet sie. Das, was da vor mir liegt, lang ausgestreckt und ohne einen Lauf zu rühren, ist die Sau, ein vierjähriger Keiler. Ich ziehe das weiße Zeug aus und breche die Sau auf, so gut ich das allein kann. Das ist eine langweilige und häßliche Arbeit, die mir den Schweiß vor die Stirn treibt.

Dann binde ich einige Papierfetzen an die Läufe und Gehöre des Keilers, damit der Fuchs ihn nicht anschneidet. Das helle Zeug ziehe ich wieder an, binde die Schneeschuhe unter und rutsche durch das Bruch der Jagdbude zu. Eine Wolke tritt vor den Mond; es beginnt verloren zu schneien. Wie ich vor der Geest bin, wirbeln die Flocken schon dichter und der Wind bläst stärker. Mit Pirsch und Ansitz ist es nun aus und ich kann mit gutem Gewissen in den Schlafsack kriechen. Ehe mir die Augen zufallen, überdenke ich noch einmal den schwarzen Tag von gestern und die helle Nacht die darauf folgte, und was sie mir brachte: Gelassenheit für das Herz und eine gute Beute. Lieber wär mir ja ein Weihnachten anderer Art; doch man muß das Leben nehmen, wie es ist. Und kommt nach Sturm und Regen auch nicht die Sonne, kühler Vollmondschein hat auch seinen Wert.

Hermann Löns, Hellnachtspirschgang

Die Geschichte finden Sie bei den Weihnachtsgeschichten 2 sowie hier
und eine andere Geschichte hier

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