Ein Vorweihnachtsmärchen

Ein Vorweihnachtsmärchen von Otto von Leixner
1894

Wenn die Weihnachtszeit herannaht, dann liebe ich’s, in der Nacht durch die Straßen zu wandeln. In den meisten ist es dann ganz still. Müde flackern die Gaslampen. Ganz leise klettert das Sternenlicht von den Giebeln und Dächern über die Simse hinab in die Straßen. Scheinbar ist alles wie sonst. Aber wer mit dem Herzen lauscht, der kann zuweilen ein halbverwehtes liebliches Klingen vernehmen. Einen unirdischen Ton, der das Herz tief, tief ergreift und es zittern macht, so selig ahnungsvoll, wie einst in Kindertagen. Noch mehr Glück hat Jener, der leichte Schritte vernimmt. Ein Unsichtbares gleitet dann an ihm vorbei, milder Hauch streift ihm Wangen und Stirn. Dem Glücklichsten aber zeigt sich dieses Unsichtbare, und vor ihm schreitet dann lichtumflossen der Weihnachtsengel, gefolgt vom Knecht Rupprecht.

Der Zweite glänzt nicht in so himmlischem Licht. Aber aus seinen Augen bricht doch ein Strahl, der in Menschenaugen nur selten wohnt. Jüngst hatte ich das Glück, den Gesandten der Liebe und seinen Begleiter zu erblicken. Ich hatte schon den leisen Glockenklang gehört und den sanften Odem empfunden. Die ganze Kraft meiner Seele floß in dem glühenden Wunsche zusammen, nun auch den lichten Himmelsboten schauen zu können. Ein solches Wünschen trägt mächtigen Zauber in sich. Nur darf es sich nicht auf Irdisches richten, etwa auf einen Orden, auf ein Brillanthalsband oder auf das große Los. Da verliert die Sehnsucht nämlich plötzlich alle Kraft. Leider wissen das so wenige Menschen. Sie wünschen darum so Thörichtes und verschwenden die Glut des Herzens, die doch im stande wäre, den Riegel der Himmelsthür zu schmelzen.

Der Zauber wirkte: aus dem unbestimmten Dämmern tauchten die beiden Gestalten vor mir auf. Nun sind wir Männer sehr neugierig, noch neugieriger als die Frauen. Wer’s nicht glaubt, mag seine eigene Frau fragen, die wird es ihm bestätigen. So erfaßte denn auch mich die Begier, zu erfahren, was die Beiden vorhätten. Anfangs war ich indeß ein wenig schüchtern. Ich ging nur unentschieden hinter ihnen her, die mit solcher Sicherheit vorwärts schritten, als wären sie geborene Berliner. Endlich faßte ich mir das Herz und zupfte den Rupprecht ein wenig am Ärmel seines Pelzrocks. »Nu?« bei diesem Laute wandte er sich zugleich um. »Was willst Du denn?« »Verzeihen Sie, Herr Rupprecht,« flüsterte ich und zog den Hut. »Würden Sie und der andere Herr gestatten, daß ich mich Ihnen anschließe?«

Auch der Engel war stehen geblieben und wandte mir sein friedenvolles, liebes Antlitz zu. Er mußte wohl meine Frage verstanden haben, denn er nickte dem Begleiter zu und dieser sagte nun gemütlich: »Er erlaubt’s. Magst also mitgehen.« Ich schloß mich ihnen nun an und fand Muße, sein Gesicht zu betrachten. Auch hier nahm ich den Zug des Friedens wahr, neben dem sich ein anderer, der des Humors bemerkbar machte. Um den ziemlich großen Mund lag behäbiges Lächeln eingebettet. Er trug keinen Bart, wie man es gewöhnlich darstellt; der wächst wohl den Bewohnern des Himmels nicht. Plötzlich wandte er sich zu mir: »Was bist Du denn eigentlich?« »Ich bin Schriftsteller und dichte zuweilen auch.«

Rupprecht sah mich von der Seite mit spöttischem Mitleid an. »Aha, und da möchtest Du wohl wieder so etwas Stoff aufschnappen? Ihr mengt Euch doch in Alles.« Der Weihnachtsengel war stehen geblieben. Er wies nun nach einem großen Laden, der jetzt verschlossen war. Ich erkannte ihn: es war die Niederlage einer Spielwaren-Handlung. »Was wollt Ihr denn da drinnen?« fragte ich den Rupprecht. »Spielsachen ansehen.« »Aber es ist ja zugeschlossen,« erwiderte ich. Der Alte guckte mich mit lachenden Augen an. »Für einen Dichter bist Du sehr wenig schlau. Schau‘ nur!« Der Engel trat vor die verschlossene Eingangspforte. Und ehe ich es noch fassen konnte, war er durch sie hindurchgeschritten. Und schon wollte der Begleiter folgen.

»Aber,« rief ich, »wie soll denn ich nun mit Euch? Ich kann doch nicht auch so durch den Rollladen durch.« »Sei ruhig, mein Sohn, das wollen wir schon machen. Gieb mir die Hand!« Und er faßte meine Rechte. Da war mir’s, als werde mein Körper von meinem Geiste abgezogen. Ich sah noch, wie er auf den Steinstufen, die zur Thür führten, zusammenknickte. Nun da lag wie ein auf einen Stuhl hingeworfener Überzieher. Und schon trat ich hinter Rupprecht in den ganz hellen Laden ein. Das Licht aber ging von dem Weihnachtsengel aus.

Da lagen und standen in Fächern der Gestelle auf den riesig langen Ladentischen und auf dem Boden der großen Räume unzählbare Spielsachen aller Art, Soldaten, Waffen, Trommeln, große Zelte, Häuser zum Aufstellen, kostbar eingerichtete Puppenzimmer, Puppen in Sammt und Seide gekleidet, mit einem Triebwerk im Leibe, sodaß sie gehen, die Augen öffnen und schließen und sogar Mama sagen können. Maschinen aller Art und in allen Größen – doch wer könnte Alles aufzählen? Der Engel schritt langsam von Schrank zu Schrank, von Tisch zu Tisch. Je weiter er kam, desto ernster wurde der Ausdruck seines Angesichts. Die leuchtende Stirn umwölkte sich und traurig sahen die himmlischen Augen auf alle Schätze.

Plötzlich blieb er vor einem Tischchen stehen, auf dem für sich allein, die Ausstattung einer halb lebensgroßen Puppe lag, die selber, in ein seidenes, spitzenüberkleidetes Schleppgewand gehüllt, in einem kleinen Schaukelstuhle saß und mit den großen Glasaugen blödsinnig lächelnd ins Leere starrte. Umher aufgestapelt standen zierliche Pappschachteln mit noch anderen Gewändern, mit spitzenbesetzten Tag- und Nachthemdchen, Beinkleidern, mit halbseidenen Strümpfen, mit Atlas- und Lederschuhen, langen Handschuhen, dann sogar Kästchen mit Armreifen, Hals- und Uhrketten und andere Schmucksachen. Zwei Thränen quollen aus den Augen des Weihnachtsengels und rollten langsam über die Wangen, während der Rupprecht mit bösem Gesicht etwas murmelte, wovon ich…

Es klingt unglaublich, aber ich kann’s beschwören. Einige sehr kernige Flüche deutlich unterscheiden konnte. Der Engel aber, der bis jetzt geschwiegen hatte, begann leise zu sprechen. Vereine, lieber Leser, die Stimme Deiner teuren Mutter mit jener Deiner geliebten Braut. Und Du hast eine Ahnung des Wohllauts, den ich vernahm. Und der Engel sprach also: »So morden sie mir die reinen Seelen der geliebten Kinder! Schon den Kleinen nahen sie sich mit der Verführung und nähren Eitelkeit, Hang zu glänzendem Flitter, Hochmut und Neid! Alles ist überreich, für nichts mehr hat die sorgende Seele des kleinen Mädchens, die nach Beschäftigung verlangt, zu sorgen. Die Thoren von Eltern töten den heiligen Keim der Mütterlichkeit, den Keim der schaffenden Sorge, der zärtlichen Liebe in den jungen Seelen. O Thoren, Thoren!«

Rupprecht hatte bisher nur heftig mit dem Kopf genickt, jetzt aber fuhr er los: »Guck nur alle diese Puppen an! Reine Affen, gerade so wie viele lebendige Weiber! Mit allem Firlefanz behängt. Und da, diese Küchen, bis aufs Kleinste echt. Da kann man nicht mehr spielen, sondern nur arbeiten! Früher haben die kleinen Mädchen aus Brot, Äpfeln, Nüssen und einem Stückchen Zucker hundert verschiedene Gerichte gemacht auf bescheidenen Thonschüsselchen. Jetzt machen sie Koteletts und Beefsteaks aus blutigem Fleisch. Alle Phantasie wird totgeschlagen. Da soll doch das Donnerwetter« – Der Engel unterbrach ihn: »Nicht fluchen, Rupprecht!«

»’S ist mir nur so herausgerutscht – verzeih. Ich kann’s aber nicht ruhig ansehen, wie die junge Brut verdorben wird. Bleibt denn noch Platz zum Märchenspinnen, können sich die Kinder noch mit dem Spielzeug eine eigene Welt bauen? Da sind Maschinen und anderes Zeug, was nichts Anderes bedeuten kann, als es gerade darstellt.«

Der Engel nickte und sprach: »Der Geist des Kindes will aber verändern. Er will selbst schaffen und im Schaffen eingeborene Freiheit entfalten. Ein Spielzeug ist ein gar ernstes Ding, und nicht jede Nachahmung der Dinge der Welt ist dazu tauglich. Dieser künstliche Reiz, der all‘ diesen kostbaren Sachen hier gegeben ist, verblaßt. Und das Kind langweilt sich zuletzt und wird Affe der Großen. Wie lebendig ist Alles hier und doch bloßer Schein: Pferdchen und Lämmchen laufen und springen, Männer und Weiber tanzen. Alles durch aufgezogene Uhrwerke. Und trotz der Bewegung ist’s innerlich tot. Das Kind will sein Spielzeug beherrschen und lieben zugleich. Aber solchem glänzenden Tand gegenüber wird die Liebe nicht wach.«

Während der Engel so sprach, hatte sich Rupprecht vor einen Tisch gestellt, der mit allen ersinnlichen Maschinen bedeckt war, mit Dampfwagen, Hammerwerken, kleinen elektrischen Eisenbahnwagen, die auf Schienen liefen u. s. w. »Natürlich,« brummte er, »Maschinen und Maschinen! Die kleinen Jungen schon müssen lernen, den Götzen der Zeit, dem Dampf und der Elektrizität zu opfern! Damit sie selber so bald als möglich Maschinen werden, und Alles in ihnen beseitigt werde, was kindlich ist! Wenn das so weiter geht, so gebe ich meine Stellung auf. Ich bitte den lieben Herrgott, daß er mich zum Hilfspförtner macht. Der Herr Petrus ist so schon manchmal schwach.« Der Engel schritt weiter und kam an ein großes Gestell im Hintergrund des Ladens. Sein Blick erhellte sich, und liebliches Lächeln umspielte den Mund.

Denn hier gab es nur schlichtes Spielzeug. Einfache Puppen in einfachen Kleidern, Schachteln mit Häusern und Tieren, mit Meierhöfen und drolligen Bäumen, Baukästen mit einfachen Holzklötzchen. Blau angestrichene Wägelchen und Pferdchen, denen der Schwanz unternehmend vom Leibe abstand. Alles mit etwas mehr Schönheitssinn gemacht, als es einst der Fall war. Aber sonst doch gemahnend an frühere Zeiten, wo die Kinder noch Kinder waren. Mit liebevollem Blick betrachtete der Weihnachtsengel dieses billige Spielwerk. Dann streckte er die beiden Hände aus und leuchtend brach es aus seinen Augen: »Selig seid Ihr, Ihr Kinder der mäßig Begüterten und der Armen. Denn Euer ist noch das Himmelreich der Kindheit! Sei gesegnet, Du totes Spielzeug, Du wirst belebt werden vom Kindergeist und von Kinderherzen geliebt!« So sprach er. Dann wandte er sich um und glitt langsam zurück.

Aber auf all‘ die verschwenderisch kostbaren Sachen fiel der segnende Blick des Engels nicht. Wie vorhin, so verschwand er jetzt wieder durch die Thür. Und es ward dunkler, denn von Rupprecht und von mir ging nur ein schwaches Leuchten aus. Wir folgten nach. Ich sah nach den Stufen: mein Körper war verschwunden! »Um Himmelswillen!« rief ich aus, »wo ist mein Leib hingekommen?!« Rupprecht kratzte sich verlegen hinter den Ohren und selbst der Weihnachtsengel blickte betroffen auf die leere Stelle. Mir war es sehr unheimlich zu Mute. Mein Geist war noch nicht gewöhnt, vom Stoffe frei zu leben. Denn es war ihm noch bestimmt, längere Zeit auf Erden zu weilen. Da durchzuckte mich ein Gedanke. »Auf das nächste Polizeiamt!«

Ich eilte auf die nächste Litfaßsäule zu. Die Andern folgten … und sah dort nach. Dann schritten wir eilig der bezeichnten Straße zu und traten in das Haus und in die Amtsstube ein. Der Anblick, der sich mir bot, war nicht erfreulich. Ein stämmiger Schutzmann hielt meine schwankende Gestalt unter dem Arme fest. Der dienstthuende Wachtmeister sah auf mich mit sehr bedenklichen Augen. Er schien den Zorn nur mit Mühe zurückzuhalten. »Ich sage Ihnen zum letztenma. Die Behörde läßt sich nicht zum Besten haben.« Mein Leib erhob das bleiche Gesicht und blickte den Beamten unsicher an. Dann öffnete sich der Mund, und eine mir fremde Stimme sagte: »Ich will Sie nicht zum Besten haben! Ich denke umsonst nach, wie ich heiße. Ich bin geistesabwesend.« »Betrunken sind Sie, oder verrückt!« schrie er mich an. »Führen Sie,« wandte er sich zu dem Schutzmann, »den Herrn da hinein, er kann den Schwips ausschlafen.«

Rupprecht gab mir einen Stoß. »Jetzt fahr in Dich, es ist die höchste Zeit.« Ich gehorchte sofort. Anfangs war mir, als könne ich mich nicht mehr zurechtfinden. Das Gefühl verschwand aber rasch. »Verzeihung, Herr Wachtmeister,« sagte ich dann, »ich leide zuweilen an bestimmten Zufällen nervöser Art. Mir ist wieder ganz wohl. Hier ist meine Karte mit Wohnungsangabe, hier zufälliger Weise sogar ein Steuerzettel, der zum Ausweise dienen kann. Haben Sie die Güte mich gehen zu lassen.« Der Beamte brummte etwas und gab dann ziemlich besänftigt seine Zustimmung. »Sie sollten aber nicht allein ausgehen, wenn Sie an solchen Zuständen leiden.« Mit dieser menschenfreundlichen Mahnung entließ er mich. »Siehst Du,« sagte Rupprecht draußen. »Das hat man davon, wenn man neugierig ist.« »Ich bedauere es dennoch nicht,« antwortete ich herzlich. »Es war mir eine innige Freude, die Bekanntschaft der Herren gemacht zu haben.«

Der Engel sah mich freundlich an und senkte das Haupt zum Gruß, Rupprecht schüttelte mir die Hand. Lautlos verschwebten die Gestalten. Einen Augenblick noch sah ich das milde Licht, und dann lag die Dämmerung träge hingestreckt in der totenstillen Straße. Ich aber wandelte träumend nach Hause.

Otto von Leixner, Ein Vorweihnachtsmärchen

Die Geschichte finden Sie bei den Weihnachtsgeschichten 2 sowie hier
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