Die Erzählung der Mutter: Marien-Kind von Ludwig Aurbacher
Vor vielen Jahren lebte ein Ritter mit seiner Frau auf einer Burg am Rhein. Der Ritter hatte ein gar stattliches Ansehen, zumal wenn er auf hohem Rosse saß, den Falken in der Hand, um ihn auf die Tauben stoßen zu lassen. Aber er war eines leichten Sinnes und eines jähzornigen Gemüthes. Die meiste Zeit brachte er auf der Jagd zu oder bei Banketten. Er ging nicht in die Kirche, und fürchtete weder Gott, noch schonte er der armen Menschen. Daher hatten die Eltern des Mägdleins einen Widerwillen gegen den Mann gefaßt, und der Tochter die Heirath mißrathen. Aber diese sah nur auf die Schönheit des Ritters und hörte nur auf seine Schmeichelworte. Und eines Tags entfloh sie mit ihm aus der väterlichen Burg zu großem Leidwesen der Eltern.
Ach! sie mußte dieß bald gar schwer büßen. Denn es verging kurze Zeit, daß der Ritter sein wüstes Leben, welches er einige Wochen gelassen hatte, wieder von neuem anfing und bald noch ärger trieb. Da saß denn die junge Frau ganz allein zu Hause, wo sie von der Gnade und nach den Launen eines geizigen Burgvogtes leben mußte. Noch schlimmer aber war es, wenn der Ritter von einer Fahrt wieder heim kam. Denn dann brachte er immer mehrere Gesellen mit, die von gleich roher Gemüthsart waren. Sie zechten ganze Nächte durch und praßten von des Ritters Gut. Wenn die Rittersfrau, die eines stillen Gemüthes und der Ehren und Züchten gewohnt war, sich über den Lebenswandel beklagte, oder wenn sie sich von den lärmenden Banketten zurückzog, so schalt sie der Mann. Und die übrigen Ritter verhöhnten sie, so daß sie alles Herzenleides genug hatte.
O wie oft dachte sie da an das Sprüchlein: Des Vaters Segen baut der Kinder Häuser auf. Aber der Mutter Fluch reißt sie wieder ein. Und sie vertrauerte ganze Tage und verweinte ganze Nächte, und wußte weder Hülfe noch Rath. Wenn nun ihres Herzens Noth am größten war, und ihr schier der Athem verging vor Schmerz, der ihre Brust beklemmte, so wandelte sie wohl ins Freie und in das nahe Eichenwäldchen, wo eine kleine Capelle stand, zu Ehren der seligsten Jungfrau erbaut. Hier betete sie denn oft inbrünstig und unter vielen tausend Zähren, daß Gott, durch die Fürbitte Mariä, das Herz ihres Mannes bekehren möge, oder sie selbst recht bald aus ihrem Elende erlösen wolle. Ihr Mann aber ließ nicht ab von seinem wüsten Leben, sondern verwilderte noch mehr.
Das fiel der Frau sehr schwer, zumal da sie der guten Hoffnung war, daß sie bald eines Kindleins genesen werde. »Ach! klagte und betete sie oft in der Capelle vor dem Bildniß der seligsten Jungfrau. Ach, wenn mir nun auch die Gnade werden sollte, daß ich stürbe, wer wird alsdann für mein Kindlein sorgen! O seligste Jungfrau und Mutter Gottes, Maria! Nimm du dich des armen Würmleins an, und vertritt Mutterstelle an ihm.« Es war an einem kalten November-Tage, als sie wieder einmal zum Kirchlein wanderte, um allda zu beten. Da, wie sie die Schwelle betrat, ergriffen sie schwere Ängsten und Nöthen. Sie rief aus dem Grunde des Herzens: »Hilf, Maria! hilf!« dann vergingen ihr die Sinnen, und sie sank in Ohnmacht. – Nachdem sie wieder zu sich kam, sah sie ein schönes Kind auf ihrem Schoße liegen, ein Mägdlein, und vor ihr stand eine erhabene Frau.
Deren langes weites Gewand war weiß wie der Schnee; von ihrem Haupte wallte ein himmelblauer Schleier. Ihr Antlitz leuchtete wie der sanfte Mond, und ihre Augen flimmerten wie die lieblichen Sterne. Und die Frau sprach: »Ich bin Maria, die Himmelskönigin. Weil du mich angerufen hast in deinen Nöthen, so bin ich erschienen zu deiner Hülfe. Es soll, wie du’s gewünscht, deines Elendes ein Ende seyn. An deinem Kinde aber will ich treulich Pathen- und Mutterstelle vertreten. So wahr sich Gott deiner erbarmt hat, in seiner Barmherzigkeit!« Indem sie noch sprach, da kam, wie durch Zufall, ein frommer Priester zur Capelle. Er taufte das Kind, und nannte es, wie die Pathe hieß, Maria. Dann reichte er auch der sterbenden Rittersfrau die heilige Wegzehrung, worauf diese ruhig im Herrn verschied.
Maria aber nahm das Kind mit sich von der Erde weg in den Mond, wo sie das Mägdlein in ihrer Burg nähren und pflegen ließ durch den Engel, der von Gott dem Kinde zugesellt ward von der Geburt an. Marien-Kind gedieh aber sichtbar unter der Pflege und Obsorge des Schutzengels. Es kamen oft die unschuldigen Kindlein vom Himmel herunter zu Marien-Kind, und brachten ihm schöne, glänzende Steine mit. Sie spielten mit ihm Stunden lang, und nannten es Schwesterchen, und liebkoseten das Mädchen. Auch Maria kam beinahe jeden Tag, um ihre Pathe heimzusuchen. Sie nahm das Kind auf ihren Schoß, und nährte es mit himmlischer Speise und tränkte es mit himmlischem Trank. Und Marien-Kind wurde in wenigen Jahren so verständig und artig, wie kein so verständiges und artiges Kind hier auf Erden gefunden werden mag.
Bald hatte es jedoch keine Freude mehr in dem bloßen Spiele mit den unschuldigen Kindern. Sie hatte nur darum noch Umgang mit ihnen, weil es ihre Pathe so wollte. Und weil die goldgelockten Kleinen mit ihren klaren Aeuglein und freundlichen Gebärden gar so liebe Kinder waren. Desto lieber hörte sie aus dem Munde Maria’s und von ihrem Schutzengel schöne Geschichten, und von dem lieben Vater im Himmel und von seinen Kindern auf Erden, den Menschen. »Ach, sagte Maria zu ihr, diese Menschen waren anfangs so glücklich und selig, wie du. Sie wohnten in einem überaus schönen Garten, und hatten alles Süße im Ueberflusse. Und die Engel gingen mit ihnen um wie Brüder. Und der himmlische Vater sah mit Wohlgefallen auf sie herab.
Aber die Menschen erzeigten sich undankbar und ungehorsam gegen Gott. Sie wurden, zur Strafe, aus dem schönen Garten vertrieben und in eine Wüste hinaus gejagt, wo sie Mangel litten an allem, und zuletzt des Todes sterben mußten. Schrecklicher aber als Hunger und Durst und der Tod selbst, war die Sünde, die wie ein Wurm an ihrem Herzen nagte. Und das Bewußtseyn, daß sie die Gnade des himmlischen Vaters verloren hatten und nicht mehr würdig waren, seine Kinder zu heißen. Da erbarmte sich des himmlischen Vaters eingeborner Sohn. Er verließ den Himmel und kam herab zur Erden, um das Menschengeschlecht zu erlösen und mit Gott wieder zu versöhnen.«
Und nun erzählte Maria, wie das Kindlein Jesus geboren ward in einem Stalle. Wie es sich flüchten mußte vor der Grausamkeit Herodis, der die unschuldigen Kindlein tödten ließ. Und wie der Knabe Jesus gehorsam war seinen Eltern, und gleichwie an Jahren, also auch an Weisheit zunahm. Weiter erzählte sie, wie späterhin Jesus, welcher genannt wird Christus, unter dem Volke, den Juden auftrat. Wie er sie das Wort Gottes lehrte. Und daß man Gott lieben solle aus ganzer Seele, aus ganzem Gemüthe und aus allen Kräften, und den Nächsten wie sich selbst. Wie der Sohn Gottes seine Freude hatte, mit den Menschenkindern umzugehen. Wie er die Kranken heilte und die Todten erweckte und die Sünder bekehrte. Und wie er endlich sich selbst als Opfer für ihre Sünden dahingab. Und wie er litt und starb. Ach! wer könnte das alles so schön und rührend erzählen, wie es Maria that!
Die Rede floß ihr wie Honig vom Munde. Und in ihrem Antlitz malte sich bald hohe Wonne, bald tiefe Wehmuth, je nachdem sie von den Freuden erzählte, welche die Mutter Gottes empfunden. Oder von den Schmerzen, die sie bei den Leiden ihres Sohnes gehabt. »Darnach – schloß sie ihre Erzählung – ist Jesus Christus wieder auferstanden von den Todten. Und ist aufgefahren zu den Himmeln. Und sitzet nun zur Rechten Gottes des Vaters, von dannen er kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Todten.« – Also erzählte Maria. Marien-Kind hörte dem allem mit sonderlicher Aufmerksamkeit und Andacht zu. Sie kniete vor der Pathe, die Arme auf ihrem Schoße und mit gefalteten Händen. Und sie wandte kein Aug‘ ab von ihrem Auge. Und sie konnte sich recht wonniglich freuen bei den Freuden Mariä, und recht bitterlich weinen bei den Schmerzen Mariä.
Sie behielt alle Worte, die sie gehört, tief in ihrem Herzen.
Eines Tages sagte Marien-Kind zum Engel, der sie geleitete: »Erzähle mir doch Mehreres von der Mutter Gottes Maria, was du von ihr weißt, von der Zeit an, da sie zur Welt gekommen, bis zur Zeit, wo sie zum Himmel aufgenommen worden von ihrem lieben Sohne. Mich geliebt’s sehr, alles von Unserer lieben Frau zu erfahren, denn ich trage ja ihren Namen. Und soll ihrem Beispiele folgen mein Leben lang.« Der Engel sagte: Das will ich gern. Und er fing an zu erzählen: »Ihre Eltern waren gar fromme und heilige Personen. Ihre Mutter hieß Anna und ihr Vater Joachim. Und das Töchterlein wurde ihnen geboren, als sie schon in hohem Alter standen. Aus Dankbarkeit gelobten sie, daß sie das Mägdlein ganz dem Dienste Gottes weihen wollten, als eine reine Jungfrau.
Als nun Maria drei Jahre alt war, däuchte es ihren Eltern Zeit zu seyn, ihr Gelübde zu vollziehen und ihre Tochter dem Herrn darzubringen in seinem Tempel. Also machten sie sich auf mit ihr und zogen gen Jerusalem. Als sie zum Tempel kamen, der auf einem Berge lag, also, daß er nicht anders erstiegen werden konnte, als vermittelst fünfzehn Stufen, siehe, da stieg das kaum dreijährige Töchterchen die fünfzehn Stufen ganz allein hinan, ohne einiger Menschen Hülfe, legte eigenhändig ihre Gaben auf den Altar, und stand vor den Priestern mit Freudigkeit und Zuversicht. Darüber wunderte sich jedermänniglich, und mancher sprach zu seinem Nachbarn: Was meinest du wird aus diesem Mägdlein werden? Die Eltern, nachdem sie ihr Kind den Priestern übergeben, nahmen Abschied mit weinenden Augen, doch innerlich fröhlich und zogen heim.
Die Priester geselleten die Kleine zu den andern Jungfrauen, die im Tempel waren. Solche waren sämmtlich aus dem Geschlechte Davids entsprossen. Allein Maria war von allen die alleredelste, hochbegabet an Leib wie an der Seele. Wiewohl die jüngste an Jahren, war sie dennoch die weiseste von Sinnen. Den Psalter lernte sie bald auswendig; die Bücher, die man ihr vorlegte, begriff sie ohne Mühe. Auch in mancherlei weiblicher Arbeit, das ist in Weben, Wirken, Sticken und Stricken war sie bei weitem die geschickteste. Also daß auch die übrigen Jungfrauen sie von Herzen liebten und ehrten, und ihre Meisterin und Herrin sie nannten. Die Priester übergaben ihr des Tempels Zier und Reinigkeit, und dieses Amtes pflegte sie mit großem Fleiße.
Alle ihre Stunden waren eingetheilt zwischen Gebet, weiblicher Arbeit und der Tempelpflege, und niemand sah sie müßig gehen. Auch ward sie so oft entrücket, und genoß keine andere Speise, als welche ihr der Engel brachte, der sie lehrte, wie sie solle Gott dienen, ihn von ganzem Herzen lieb haben, und sich vor der Sünde hüten. Es war auch Unsre liebe Frau aus der Maßen sittig und züchtig und geschämig. Wo sie irgend ging, da neigte sie das Haupt, und schlug die Augen nieder, und sah sich gar nicht um. So sie jemand anredete, so antwortete sie auf das allerdemüthigste. Kurz, sie war ein rechtes Tugendbild. Und ist ein klarer Spiegel aller Tugenden nächst Gott dem Herrn, in welchem sich alle Menschen spiegeln sollen, wie nah und fern sie von ihm seyen an Sinnesart und Gemüthe.«
Ein anderes Mal erzählte der Engel, was mit der heiligen Jungfrau Maria weiter geschehen: »Als Maria vierzehn Jahre alt war, wollte man ihr einen Mann geben, nach der Weise der Juden. Sie aber sprach: Ich habe Gott gelobet, eine Jungfrau zu bleiben immerdar. Und ich will mein Gelübde bewahren bis an meinen Tod. Die Priester sprachen: Solche Sitte ist bis jetzt nicht erhöret unter unserm Volke. Eingedenk jedoch des Wortes, das geschrieben steht: Was du gelobet, das halte! riefen sie Gott mit Inbrunst an, daß er ihnen seinen heiligen Willen offenbaren möge. Da erscholl die Stimme Gottes in dem Tempel und sprach: Alle Männer vom Geschlechte Davids, welche keine Frauen haben, sollen in den Tempel kommen. Und ein jeder soll ein Reislein opfern. Wessen Reislein nun grünen und blühen wird, derselbige ist der rechte Mann, dem soll man die Jungfrau geben. Da versammelten sich viele Männer.
Jeder hoffte, daß sein Reislein blühen, und ihm die Jungfrau zu Theil werden würde. Allein sie warteten vergebens, und keine Ruthe blühete von allen. Als nun das Volk darüber irre ward, sprach die Stimme: Joseph von Bethlehem, aus dem Geschlechte David, ist nicht hier. Dieser allein ist der Jungfrau würdig, allein aus großer Demuth ist er nicht erschienen. Da sandten die Priester hin, und hießen ihn kommen. Joseph that, wie ihm befohlen ward. Er kam und brachte sein Reis, welches alsbald anfing zu grünen und zu blühen und wie eine Lilie anzusehen war. Da geboten die Priester dem frommen Mann, daß er Maria zu seinem ehelichen Gemahl nehmen sollte. Er sprach: Ich bin’s nicht werth. Dennoch will ich thun, was Gott und ihr mich heißet. Wie ich mich bisher rein erhalten, so will ich auch dieser heiligen Jungfrau nur als Bruder nahen oder als Vater.
Also ward Maria ihm verlobet, und Joseph führte sie heim und bereitete die Hochzeit. Mittlerweile erschien Maria der Engel Gabriel, und verkündigte ihr, daß sie Gott ausersehen habe, die Mutter seines Sohnes zu seyn! Was sich dann weiter mit Maria begeben (sagte der Engel zu Marien-Kind), wie sie Jesum geboren zu Bethlehem, wie sie mit dem Kindlein in Aegyptenland geflüchtet, wie sie ihren lieben Sohn in der Furcht des Herrn auferzogen, wie sie ihn einst drei Tage gemißt, und endlich wieder gefunden im Tempel, wie sie unter seinem Kreuze gestanden mit Herzenleid, und wieder getröstet wurde durch seine Auferstehung. Das alles und noch mehreres hat dir deine Pathe selbst erzählet. Und du hast wohl ihre Worte treu bewahret in deinem Herzen.«
Der Engel erzählte weiter: »Als nun Jesus Christus zum Himmel aufgefahren war, so baute sich die Jungfrau Maria am Fuße des Berges Sion eine Hütte unter einem fruchtbaren Oelbaum und zwischen schattigen Palmen, und verließ diese Wohnung nimmer, außer wenn sie die heiligen Oerter besuchte, wo ihr göttlicher Sohn geboren ward, wo er gelebt, gelitten und gestorben, und das heilige Grab, worin er gelegen, und die heilige Stätte, von dannen er aufgefahren gen Himmel. Also in Gebet und frommer Betrachtung, und mit immer wachsender Sehnsucht nach ihrem geliebten Sohne, lebte sie bis in ihr siebenzigstes Jahr. Da erschien ihr eines Tages derselbe Engel, welcher ehedem zu ihr gesandt worden war, um ihr zu verkünden, daß sie auserlesen sey, die Mutter Gottes zu werden.
Er begrüßte sie wieder mit den Worten: Ave Maria. Und er verkündete ihr, daß die Zeit gekommen sey, wo ihr göttlicher Sohn sie heimholen wolle zur ewigen Freude und Herrlichkeit. Maria sprach: Der Wille des Herrn geschehe! Und der Engel reichte ihr zum Zeugniß einen himmlischen Palmzweig. Er breitete ein kostbares Brautgewand vor ihr aus, damit sie würdiglich den Sohn empfangen könne, wenn er käme, sie heimzuholen. Alsbald eilte der Engel, auf Gottes Geheiß nach aller Welt Enden, und führte die Apostel herbei, auf daß sie Zeugen wären von der Heimfahrt Mariä, und der letzten Ehren, die ihr Sohn ihr auf Erden erweisen wollte. Und als sie alle versammelt waren um die Mutter Gottes, und Gott lobten in Psalmen, siehe! da stieg Jesus Christus, der ewige König, darnieder im Gefolge der Engel. E
Er trat vor Maria hin und küßte sie. Er nahm ihre Seele von hinnen, die sich ohne allen Schmerz vom Körper lösete, und in die Arme des Sohnes flog mit unaussprechlichem Entzücken. Ein süßer Duft und ein heller Glanz umfloß den heiligen Leichnam, und die Apostel und die Jungfrauen, welche Marien gedient, verharrten mehrere Stunden lang im Gebete um die Bahre der Hochgebenedeieten. Dann aber erhoben sie die Leiche, und trugen sie in Procession und unter Psalmengesang ins Thal Josaphat zum Grabe, in welchem noch keines Menschen Leichnam gewesen. Und wunderbar! die Juden und die Heiden, welche in der Nähe weilten, vernahmen zwar den Gesang, aber sie gewahrten keines Menschen. Also unbeachtet von der Welt wachten die Heiligen abwechselungsweise bei dem Grabe der seligsten Jungfrau drei Tage lang.
Der Herr aber, eingedenk, daß der Leib Mariens ihn getragen und genährt, wollte nicht, daß die Verwesung über ihn komme. Er fuhr nach drei Tagen wiederum hernieder, im Geleite der heiligen Engel. Gleichwie er selbst nach drei Tagen wieder von den Todten auferstanden, also erweckte er den Leib seiner Mutter wieder zum ewigen Leben. Im Angesichte der Apostel und der heiligen Jungfrauen erstand Maria aus dem Grabe. Von Engeln getragen, erhob sie sich, ihrem göttlichen Sohne nach, zum Himmel, wo sie, als Königin des Himmels und aller Heiligen, zur Rechten des Sohnes den Thron einnahm, der ihr bereitet war von Anbeginn.«
Hiemit schloß der Engel die Geschichte vom Leben Maria’s. Marien-Kind faßte von der Zeit an noch mehr Verehrung gegen ihre heilige Namens-Patronin und beschloß in ihrem Herzen, ihre Tugenden nachzuahmen, um auch ihrer Freuden und Ehren theilhaftig zu werden. Zuletzt fragte sie noch den Engel: Mit welchem Gebete Maria vornehmlich geehrt werden möge? Der Engel antwortete: Maria mag mit keinem andern Gebete mehr geehrt werden, als mit dem Gruße des Engels, der ihr die Botschaft brachte, daß sie den Heiland der Welt gebären sollte. Und er lehrte ihr das Ave Maria welches sie nun von diesem Tage an fleißig und andächtig betete.
Solche und andere schöne und fromme Geschichten vernahm Marien-Kind aus dem Munde Maria’s und des Schutzengels. Das Mädchen war auch von Jahr zu Jahr größer und schöner und frömmer. Sie arbeitete und spann fleißig mit Maria Marien-Fädchen. Und wenn auch diese abwesend war, so folgte sie in allem dem Engel, der sie mahnte und warnte, und für sie wachte und sorgte, wie ein liebender Bruder. So wurde Marien-Kind vierzehn Jahre alt. Da sagte eines Tages Maria zu ihr: »Ich werde dich nun verlassen auf lange Zeit. Und weil du nun schon größer bist und gescheidter, so übergebe ich dir die Schlüssel zu den drei Sälen der Burg. Du magst alle Herrlichkeiten besehen, die darin enthalten sind. Wenn du fromm und folgsam bleibest, so sollen wohl auch einstens alle diese Schätze dein werden.
Nur zur Zinne der Burg darfst du nicht hinaufsteigen, und mein Gemach betreten, wo mein Bad ist. Und viel weniger darfst du des Bades gebrauchen. Das verbiete ich dir ernstlich und bei schwerer Strafe.« Marien-Kind versprach alles, und weinte gar herzlich, als die Pathe Abschied nahm. Schon des andern Tages trieb die Neugierde das Mägdlein an, die Säle zu besuchen. Obwohl der Engel sagte, es wäre besser, die Schau noch aufzuschieben bis auf spätere Zeiten. Das Mägdlein aber dachte: Unrecht sey es einmal nicht. Es war das erste Mal, daß sie den Rath ihres Engels nicht achtete. Mit freudig pochendem Herzen schloß sie den ersten Saal auf. Ei! was war da für eine Pracht! Die schönsten Kleider von den kostbarsten Stoffen hingen umher, so daß wohl hundert Hochzeitpaare damit auf das allerschönste hätten geschmückt werden können.
Marien-Kind konnte es sich nicht versagen, eines der köstlichsten Kleider anzuziehen. Sie betrachtete sich in ihrem neuen Anzuge eitel genug, und besah sich in den spiegelhellen Wänden. Und sie bemerkte mit Wohlgefallen, daß sie ein schönes Mädchen sey. Der Engel aber, welcher ferne stand und das Auge abwandte, däuchte ihr in seinem einfachen Kleide doch noch schöner. Und das verdroß sie. – Des andern Tages schloß sie den zweiten Saal auf. Da war die Herrlichkeit noch größer. Denn in großen Kasten von Krystall glänzten die schönsten Edelsteine, goldene Geschmeide und kostbare Kleinodien. Sie besah eines nach dem andern, und hängte sich manchen Schmuck um, und ging stolz einher. Der Engel hatte sie wieder begleitet, stand aber wiederum fern von ihr, und wandte das Auge ab.
Das kümmerte aber das Mädchen nicht mehr. Wohl aber, wie sie sah, daß der Engel sich ein Krönlein von Perlen aufsetzen wollte, litt sie das nicht, sondern sagte: Das Krönlein gehöre ihr. Denn die Pathe habe ihr alles das versprochen. Und sie nahm das Krönlein dem Engel. Aber im Augenblicke zerbrach es. Die Perlen fielen alle zu Boden, und zerflossen wie Thränen. Darob erschrack zwar das Mädchen, aber sie ließ sich’s nicht zur Warnung seyn. Am dritten Tage öffnete sie auch den dritten Saal, und da war die Pracht noch am allergrößten. Denn sie stand mitten in einem überaus schönen Garten.
Den Boden schmückten ganze Beete von den farbigsten und duftigsten Blumen und an den Wänden breiteten fruchtbare Bäume ihre Zweige aus, in denen die seltsamsten Vögel ihre Stimmlein hören ließen, so daß man vor dem schönen Gesang und dem Wohlgeruch schier in eine süße Betäubung fiel. Da pflückte nun das Mädchen von diesem und jenem Baume köstliche Früchte, und aß, und was sie nicht essen konnte, das steckte sie zu sich, und theilte nicht mit dem Engel. Ja, als dieser, der wieder in der Ferne stand, selbst einen seltenen, gar schönen Apfel abpflückte, so begehrte ihn das Mädchen mit Ungestüm. Wie sie ihn aber anbeißen wollte, kroch ein häßlicher Wurm heraus. Sie ließ ihn vor Schrecken fallen, und der Apfel zerfiel alsogleich in Staub und Asche.
Von der Zeit an besuchte Marien-Kind täglich die drei Säle. Sie kleidete und zierte sich alle Tage, und naschte in Einem fort, und die Eitelkeit und der Stolz und die Genußsucht und alle bösen Gelüste nahmen immer mehr in ihrem Herzen die Oberhand. Und sie hatte keine Freude mehr an der Arbeit, sondern liebte nur den Putz und den Müßiggang. Sie vergaß Gottes, und dachte nicht mehr an ihre Pathe, und betete nicht mehr das Ave Maria, das ihr der Engel gelehrt hatte. – Endlich wurde sie auch all der Herrlichkeiten satt, die in den drei Sälen vorhanden waren. Und es entstand in ihr nun der böse Gedanke, gegen das ausdrückliche Verbot ihrer Frau Pathe, auch die Zinne der Burg zu besuchen.
»Gewiß, dachte sie – ist dort das Allerköstlichste zu schauen und zu schmecken; und das Bad macht mich zum schönsten Mädchen, das nur zu sehen ist.« Je mehr sie daran dachte, desto mehr gelüstete sie darnach. Und zuletzt beschloß sie, ohne dem Schutzengel etwas zu sagen, das Bad zu besuchen; und damit sie es allein thun könne, und ohne Zeugen, so wählte sie dazu die Nacht. Als sie aus dem Kämmerlein ging, da däucht‘ es ihr, als hörte sie den Engel leise weinen. Doch sie achtete nicht darauf, sondern ging fort. Auf dem Wege dahin wollte sie ein paar Mal wieder zurückkehren, denn sie sah wohl ein, daß sie ein großes Unrecht beginge; aber das Gelüste war gar zu groß, und sie stand zuletzt vor der Pforte, die zur Zinne führte. Ihr Herz pochte heftig; sie hörte noch den Engel von ferne weinen; ihn selbst sah sie nicht.
Da steckte sie den Schlüssel an: die Pforte sprang auf, es befiel sie ein Zittern am ganzen Leibe. Alsbald faßte sie sich jedoch wieder. – »Geschehen ist geschehen« – dachte sie; und da sie nun einmal die Pforte erschlossen, so däuchte es ihr gleichviel, wenn sie sich droben auch umsähe. Sie stieg hinauf, und sah um sich, und sah in eine weite, leere Nacht und Wüste hinaus; die Sterne flimmerten zitternd, wie weinende Augen, und wie ein drohendes Zeichen leuchtete am fernen Himmelsrande eine große, dunkelrothe Kugel hinter einem graulichen Gewölke, durch welches einzelne Feuerstreife, wie Schlangen, zuckten. Es schauderte dem Mädchen bei diesem Anblicke. Schon wollte sie wieder umkehren; da sah sie plötzlich eine Gestalt vor sich stehen, ähnlich dem Engel; aber sein Kleid war blutroth, und sein Antlitz brannte schier von den Flammen, die aus seinen Augen schossen.
Aber der Fremde sprach mit einnehmendem Tone und mit schmeichelnden Worten: »Bist du endlich da, lieb’s Töchterchen? Ich habe lang geharret auf dich, um dich heimzuführen. Nun bist du selbst gekommen aus freien Stücken. Und du hast den Muth gehabt, herauf zu steigen zur Zinne, wo frische Lebensluft athmet und eine freie Aussicht sich eröffnet. Und wo man sich erhaben fühlt über alles. Da unten aber ist’s auch gar so eng und schwül. Du lebtest recht kümmerlich unter der Zucht deiner Pathe und unter der lästigen Aufsicht des Engels. Erhebe nun dein Haupt, und schaue hinaus in’s Freie, und vernimm die Wunderdinge, die ich dir zeigen und sagen werde.« Und der Fremde zeigte nach der Kugel hin.
Und sie war nicht mehr so blutroth anzusehen, wie eine furchtbare Erscheinung. Sondern sie glänzte in einem milden, sanften Lichte, wie der Mond in einer schönen Nacht mild und sanft auf uns nieder schaut. Je länger das Mägdlein hinschaute, desto schöner ward die Kugel. Und jenes schwere Gewölke lösete sich allmählich in buntfarbige Wölklein auf, die sich in tausendfaltigen Gestalten über die Kugel hinlegten, so daß diese, wie eine zauberische Landschaft, wie ein Feenreich, erschien. »Das ist – sagte der Fremde zum Mägdlein, welches ganz in Erstaunen aufgelöset war – das ist die Erde, dein Geburtsland. Aus jenem glücklichen Lande hat dich deine Pathe entrückt, und in diesen kalten, matten, stillen Mond versetzt.
Dort lebt dein Vater, und sehnt sich nach dir Eines Sehnens. Dort findest du tausend Gespielen deines Alters und deines Geschlechtes. Und dort wartet auf dich dein Bräutigam. Der wird dich heimführen in das Kämmerlein der Liebe.« Es wollte dem Mägdlein schier das Herz brechen vor nie gekannter Sehnsucht. Und sie sagte: »O nimm mich fort, dahin, wo mein Vater lebet, wo ich die Gespielinnen finde, wo der Bräutigam meiner harret.« Der Fremde sagte: »Das steht bei dir. Bade dich nur dort in jenem Bade. Dann hast du die Macht, dich jeden Augenblick hinwegzuheben von diesem Orte, und hinunter zu schweben nach der Erde. Dort wirst du mich wieder sehen.« Bei diesen Worten verschwand der Fremde, und ein Feuerstrahl zuckte in den Abgrund hinab.
Jetzt erst bemerkte Marienkind das Bad, welches, mitten auf der Zinne, in einem Becken von Porphyr eingeschlossen war. Sie schaute lange hinein, zögernd und zweifelnd, was sie thun sollte. Denn die Pathe, das wußte sie, hatte es ihr doch gar zu streng und ausdrücklich verboten. Und sie fühlte wohl, daß der Ungehorsam zugleich der schändlichste Undank sey. Aber da bedachte sie wiederum, daß dieß, nach des wunderbaren Fremden Aussage, das einzige Mittel sey, um hinunter schweben zu können zur geliebten Erde, zum Vater und zu den Gespielinnen, und zum Bräutigam ihres Herzens.
Endlich fiel ihr ein: »Baden will ich eben nicht, weil sie mir’s einmal verboten hat: Aber den Finger will ich doch ein wenig eintauchen. Das hat sie mir nicht verboten. Und vielleicht hilft’s doch.« Das that sie denn auch. Sie tauchte einen Finger in das Wasser. Eben ging die Sonne auf, und sieh! Wie sie ihn wieder herauszog, war er, so weit sie ihn ins Wasser gesenkt, mit Gold überzogen. Weßhalb auch dieser Finger der Goldfinger heißt bis auf den heutigen Tag. Welcher Schrecken! Sie wollte fliehen, aber ihre Füße waren schwer wie Blei, und sie konnte sich nicht von der Stelle bewegen. Sie wollte das Gold wegwischen, sie rieb und rieb, aber vergebens. Das Zeichen ihrer Schuld blieb ihr, und sie sah sich nun verrathen. Sie schlich weinend zu ihrem Kämmerlein zurück, und sah mit Bangigkeit auf die Stunde hin, wo ihre Pathe zurückkommen sollte.
Sie kam. Hätte Maria auch nicht schon aus der Ferne gewußt, was mit ihrem Pflegekind vorgegangen. So hätte ein einziger Blick auf ihr erröthendes Angesicht die Sünde verrathen, deren sie sich schuldig gemacht. Ach, wenn sie doch jetzt noch in sich gegangen wäre, und hätte ihren Fehltritt reumüthig eingestanden, und die Pathe um Verzeihung gebeten. Es wäre ihr vielleicht nicht so übel ergangen. Aber des Mägdleins Herz war schon so sehr von bösen Neigungen eingenommen, daß sie keiner Reue mehr fähig war und nur daran dachte, wie sie die gethane Schuld verdecken und abläugnen könnte. Als daher Maria ihr die Schlüssel abforderte, und sie fragte: ob sie etwa auch die Pforte zur Zinne aufgeschlossen hätte, sagte das Mägdlein kurzweg: Nein, und erröthete über und über.
Maria fragte wiederum: Sag‘! bist du nicht zur Zinne hinaufgestiegen? Das Mägdlein legte die Hand auf ihre Brust, welche sehr klopfte, und sie sagte wiederum: Nein! gewiß nicht. Maria hatte bei dieser Gebärde den vergoldeten Finger bemerkt. Indem sie bedeutsam auf ihn hinblickte, fragte sie zum drittenmale: Hast du nicht deinen Finger in das Bad getaucht? Das Mägdlein sah sich verrathen. Aber dennoch, indem sie den Finger einzog, log sie keck und sagte: So wahr ich Maria heiße, nein!
Da zog Maria ihre Stirn in düstere Falten. Sie sagte mit ernster, strenger Stimme: »Wisse, daß ich Maria bin, die Himmelskönigin, und daß ich dich auserlesen hatte zu großen Ehren und Würden, wenn du der Versuchung widerstanden und dem Gebote Folge geleistet hättest. Nun aber, da du ungehorsam geworden, so kannst du vor meinem Angesichte nicht mehr bestehen. Du mußt wieder zur Erde hinunter woher du gekommen, und das sterbliche Leben mit den Sterblichen theilen. Wenn du jedoch Buße thust, und dein Geschick mit Geduld trägst und in Gottesfurcht wandelst, und fleißig mich anrufst, so werde ich dich auch in deinem Elende nicht verlassen. Sondern dir beistehen, als eine Zuflucht der Sünder und eine Trösterin der Betrübten.«
Inzwischen, während Marien-Kind so viele Jahre unter der Pflege ihrer Pathe gelebt, hatten sich in ihres Vaters Haus große Veränderungen begeben. Der Priester, welcher der sterbenden Rittersfrau die heilige Wegzehrung gegeben, rief sogleich mehrere Landleute herbei. Daber fanden sie schon todt, und sie legten die Leiche in der Capelle nieder und wachten und beteten für die Verstorbene. So lange bis der Ritter zurückkehrte von seinen Gejagen und Jagden. Als dieser nun vernommen, daß seine Frau eines so elenden Todes gestorben und sein Kind selbst verschwunden sey, da ergriff große Angst seine Seel. Er fühlte Reue über sein sündiges Leben, das er geführt. Er faßte den Entschluß, das Unrecht, so viel an ihm lag, gut machen und der Verstorbenen die Ehre zu beweisen, welche er der Lebenden entzogen.
Vielleicht wird Gott sich seiner erbarmen, und er auch einst sein Kind wieder finden möchte, das er verloren! Und er ließ die Todte in einen köstlichen Sarg legen, und in der Mariencapelle vor dem Hochaltar begraben. Und über der Capelle ließ er eine große, schöne Kirche erbauen zu Ehren Unserer lieben Frauen. Er stiftete zwei Klöster, eines für Jungfrauen, welche Gott dienen sollten in Reinigkeit des Geistes und des Leibes. Und eines für Priester, daß sie Tag für Tag Messe lesen sollten für die Seele der Verstorbenen. Und zum Abte dieses Klosters ward jener Priester gesetzt, der das Kind getauft und die sterbende Mutter getröstet hatte. Der Ritter selbst aber, nachdem er dieß alles verrichtet, zog von Haus weg ins heilige Land. Er kämpfte dort gegen die Ungläubigen, und betete und büßte an den heiligen Stätten, wo Jesus Christus für uns gelebt und gelitten hat.
Er hatte schon beschlossen, nie wieder in die Heimath zurück zu kehren, sondern im Elend zu verbleiben bis an sein letztes Ende, um die Sünden seiner Jugend abzubüßen. Da ward ihm aber eines Tages ein Gesicht von Gott, daß er heim kehren sollte, begnadigt, und daß er werde Kunde erhalten von seiner verlornen Tochter. Also zog er heim. Und sieh! Am Tage und in der Stunde, wo er angelangt, war ein großer Zulauf des Volkes zur Kirche. Denn in der Capelle, auf dem Platze, wo der Sarg der Rittersfrau eingesenkt war, sah man eine schöne Jungfrau liegen, in Schlummer hingegossen, mit geschlossenen Augen, aber mit rothen Wangen und mit athmender Brust. Und jedermann erstaunte über der Erscheinung.
Zu gleicher Zeit traten der Abt des Klosters und der Ritter in den Tempel, das Wunder zu schauen. Da erkannten sie sogleich beide das verlorne Kind. Denn das Mägdlein war der Mutter ganz und gar gleich an Gestalt und Antlitz, nur noch um vieles schöner und jugendlicher. Drauf trat der Abt zum Mägdlein hin. Er legte ihr die Hand aufs Haupt und sagte: »Marien-Kind, wache auf!« Und das Mägdlein schlug alsogleich die Augen auf, und siehe! In dem Augenblicke stieg eine lichte, himmlische Gestalt auf, und verschwand. Und Marien-Kind öffnete ihren Mund und sprach: Ave Maria!
Die Freude des bekümmerten Vaters, daß er seine Tochter wieder gefunden, kann nicht beschrieben werden. Er nahm sie auf seine Burg und pflegte ihrer dort in allen Ehren und Freuden. Auch verbreitete sich der Ruf von der wunderbaren Erscheinung des Mägdleins im ganzen deutschen Reiche. Und es kamen Ritter und Fürstensöhne herbei aus allen Gegenden. Wie sie die außerordentliche Schönheit der Jungfrau sahen, so entbrannten sie in Liebe gegen sie. Und jeder begehrte sie zur Braut. Aber Marien-Kind weigerte sich dessen. Sie erklärte, daß ihr nun und nimmermehr nach dem streben wolle, wonach die Menschenkinder Verlangen tragen auf Erden.
Als ihr keine Ruhe werden wollte vor den Zudringlichen, so entdeckte sie eines Tages dem frommen Abte den ganzen Hergang ihrer wunderbarlichen Geschichte. Sie eröffnete ihm zugleich ihren Entschluß, daß sie in klösterlicher Einsamkeit ihr Leben Gott widmen wolle. Der Abt lobte ihren Entschluß, und auch der Vater ehrte den frommen Willen seiner Tochter. Also ging Marien-Kind ins Kloster, welches ihr Vater gestiftet hatte. Dieser vermachte noch zu seinen Lebzeiten all sein übriges Gut den beiden Klöstern, und ward selbst ein Mönch, und diente Gott in seinen letzten Tagen in Demuth und Frömmigkeit, bis er nach einem Jahre selig verschied. Gerade an dem Tage, wo er seine Tochter gefunden. Marien-Kind aber lebte in ihrer einsamen Zelle, arbeitend, lesend und betend.
Sie gedachte mit Wehmuth und Dankbarkeit an die schönen Tage, die sie bei ihrer Pathe verlebt, und mit noch größerer Wehmuth und Reue an die Sünde, die sie begangen, und den Undank, den sie verschuldet. Und allmählich kehrte in ihre Seele wieder Friede zurück. Sie sah oft in stillen, ruhigen Nächten zum Monde hinauf, mit einer liebenden, frommen Sehnsucht, wie wohl keine Erdentochter zu thun pflegt. Einsmals, wie sie hinaus schaute zum Fenster in den aufgehenden Mond, da däuchte es ihr, als wandle auf einem Mondstrahl daher derselbe unheimliche Fremde, der vor ihr auf der Zinne der Marienburg gestanden.
Und er war’s und sprach: »Bist du endlich da, mein Töchterchen? Wie lange schon habe ich dich gesucht, und nicht gefunden! Aber warum sperrest du dich auch in diese dumpfe Zelle ein, und verkümmerst dir dein junges Leben in der freud- und trostlosen Einsamkeit? Komm heraus in die Welt, in die Freiheit! Dort blühen und duften und tönen dir Freuden aller Art. Da findest du frohe Gespielinnen. Da harret deiner schon längst der ersehnte Bräutigam, der dich einführen will in das Kämmerlein der Liebe! Die Tage verschwinden, die Zeit enteilt, an jeder Minute hängt ein Thautropfen der Lust und der Liebe. Schlürfe sie, ehe sie vertrocknen.«
Marien-Kind, als sie den Versucher gewahrte, erschrack sehr. Denn sie mißtraute sich und ihrer eigenen Kraft, eingedenk der Sünde und des Abfalls, wozu sie ehedem verleitet worden. Aber auch eingedenk des Versprechens, das ihr Maria gethan, warf sie sich sogleich auf die Knie. Sie fing an mit rechter Inbrunst das Salve Regina zu beten, das ihr der Abt gelehrt hatte. Und sie betete: »Sey gegrüßt, o Königin! du Mutter der Barmherzigkeit! du unser Leben, unsere Süßigkeit und unsere Hoffnung, sey gegrüßt! Zu dir rufen wir elende Kinder Eva’s! Zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Thale der Zähren.« Bei diesen Worten erstickten die Thränen ihre Stimme. Mit ringenden Händen und mit starrem Blicke sah sie aufwärts, nach oben, von dannen sie Hülfe in ihren Nöthen erhoffte. Nun fühlte sie sich getroster und ruhiger in ihrem Gemüthe.
Und sie fuhr fort: »Eia denn! unsere Fürsprecherin! Wende deine barmherzigen Augen zu uns. Nach diesem Elende zeige uns Jesum, die gebenedeite Frucht deines Leibes.« Und als sie diese Worte so recht aus der Tiefe ihres gläubigen Gemüthes gesprochen, da ward sie im Geiste entrückt. Und sie sah Maria niederschweben zu ihr, das Jesuskindlein auf dem Arme, das gar holdselig sie anlächelte. Und Marien-Kind, voll des Entzückens über diese Erscheinung, rief aus und betete: »O du gütige, du fromme, du süße Jungfrau Maria!«
Von der Zeit an war Ruhe in ihrem Herzen. Und der Versucher vermochte nichts mehr über sie. Und so oft sie nun Morgens und Abends das Ave Maria der das Salve Regina betete mit Andacht, so erschien ihr Maria. Sie tröstete sie in diesem Thale der Zähren. Und sie zeigte ihr das Jesuskindlein, das sie immer holdselig anlächelte. Endlich nach drei Jahren brachte ihr eines Tages Maria die fröhliche Botschaft, daß das Ende ihres Elendes herannahe. Und als die Stunde kam, erschien ihr sichtbar ihr Schutzengel, und geleitete ihre Seele im Himmel.
Ludwig Aurbacher, Die Erzählung der Mutter: Marien-Kind
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