Der Orgelpeter. Eine Weihnachtsgeschichte aus der Eifel.
Aus: Mein Freund Kaspar und andere Erzählungen, Charlotte Niese
Die meisten können keine Drehorgel vertragen. Dem einen belästigen sie die Nerven, den andern machen sie melancholisch, und der dritte ärgert sich über den Orgelspieler selbst. Deshalb hatte auch der Orgelpeter eine schwierige Stellung in der kleinen Eifelstadt. Seine Drehorgel besaß nämlich den denkbar schrecklichsten Ton. Eigentlich war es kein Ton mehr, sondern nur ein gurgelndes Gequiek, das nervenerregend und ohrenzerreißend wirkte und mit einer Melodie keine Ähnlichkeit mehr besaß. Spötter behaupteten, die Orgel spiele überhaupt nicht mehr. Es seien nur die Hunderte von Mäusen, welche in ihr hausten, deren Stimmen man vernehme.
Jedenfalls war die Stellung des Orgelpeters eine schwierige, denn alles lief fort, sobald er mit seinem elenden Instrumente erschien. Nur die kleinen Jungens beachteten ihn so weit, daß sie ihn mit Steinen warfen. Spott und Steinwürfe konnte er schon ertragen, an beides war er gewöhnt. Aber niemand gab ihm mehr einen Pfennig, und der Hunger tut weh. Früher war es der alten Drehorgel doch gelungen, diesen bösen Feind von Peter fortzuhalten. Viele Jahre hindurch hatte sie mit ihrem Herrn jeden Markt in der Vordereifel besucht. Und mancher blanke Taler war durch sie verdient worden. Nun aber konnte sie nicht mehr, so viele Mühe sie sich auch gab. Und Peter mußte einsehen, daß es mit ihr nicht mehr ging. Was sollte er aber ohne seine Drehorgel anfangen? Er war alt, lahm, und wie die Leute sagten, sehr dumm. Da ist es schwer, sich auf eine neue Hantierung zu besinnen.
Als er nun eines Tages wieder die Orgel draußen vor der Stadt gespielt und Spott und Hohn geerntet hatte, setzte er sich gar trübselig auf die Schwelle eines Heiligenhäuschens und blickte durch das Gitter nach der lebensgroßen Figur des heiligen Petrus, welcher, den Schlüssel in der Hand, ernsthaft und aufgerichtet in einer Mauernische stand. Vor ihm brannten einige Kerzen und warfen einen flackernden Schein in das hölzerne Gesicht des Heiligen, ihm einen absonderlichen Ausdruck gebend. Der Orgelpeter war zwar ein guter katholischer Christ und beichtete jeden Ostern seine Sünden so gut, wie er’s verstand. Aber über die lieben Heiligen im Himmel hatte er selten nachgedacht. Jetzt fiel ihm plötzlich ein, daß Sankt Petrus sein Schutzpatron sei und ihm gewiß helfen würde, wenn er ihn bitte. Deshalb zog er schnell seine Mütze vom Kopfe, faltete die steifen gichtigen Hände und kniete vor dem Gitter nieder.
»Heiliger Petrus!« sagte er, »bitt‘ für mich, und hilf mir in meiner Not! Mußt es nit übel vermerken, daß ich dich so lang‘ gar nit angesprochen hab‘. Aber ich mag die Leut‘ nit mehr inkommodieren als nötig. Weißt ja auch, daß ich Peter heiß‘ nach dir. Und ich mein‘, daß du mir daher schon was zu Gefallen tust! Schau her – ’s ist armselig um mich bestellt. Hab‘ kein Brot und kein Geld. Und die Leut‘ spotten mich aus mit mein Orgelche. Sie ist noch gar nit so übel und für mich lange gut. Mein Mutter selig hat schon an ihr gedreht – aber heutzutag‘ soll alles fein sein! Heiliger Petrus! Zwei Kerzen will ich dir anzünden, wenn du mir hilfst. Und die Kappe will ich jedesmal ziehen, sobald ich hier vorübergeh‘. Und wenn ich’s oft vergessen, so war’s nit bös gemeint!«
Peter hatte sehr eifrig und eindringlich gesprochen, ohne die Augen zu erheben. Jetzt sah er scheu in das unbewegliche Gesicht des Heiligen, als wenn er eine Antwort erwarte. Aber diese blieb aus. Die brennenden Kerzen flackerten unruhig im Winde, und einige Schatten huschten über das Bildwerk – das war alles. Peter aber stand erleichtert auf. Ein so langes Gebet hatte er noch niemals gesprochen, und er fand, daß er seine Worte gut gewählt. Er ging zufrieden in sein dunkles, feuchtes Kämmerlein und würde sich gar nicht gewundert haben, wenn in demselben Augenblick der heilige Petrus ihm dort mit einer neuen Drehorgel auf dem Arm entgegengetreten wäre.
Aber es blieb alles beim alten. Seine Orgel ward nicht besser, der Verdienst immer elender, und der Orgelpeter fühlte sich täglich unglücklicher. Zuerst ging er alle Tage an dem Heiligenhäuschen vorüber und nickte dem Sankt Petrus vertraut zu, als wenn er ihn an seine Bitte erinnern wollte. Mehrmals sogar setzte er sich mit seiner Orgel auf die Stufen der kleinen Kapelle und spielte ganz gottserbärmlich, bis die Polizei ihn fortjagte. Aber der Heilige schien taub für Gebet und Musik. Peter hörte endlich mit beidem auf und nahm es eigentlich übel, daß Petrus ihn so schlecht behandelte. Eines Tages ging er sogar zum Kaplan und verklagte seinen eigenen Schutzheiligen.
»Ich weiß gar nit, was ich dem Herrn Petrus getan!« sagte er. »Da geh‘ ich und bitt‘ und bitt‘, und er ist ganz taub geworben. Und ich hab‘ ihn sonst nie um etwas gebeten – ich meine doch, er könnt‘ mir mal einen Gefallen tun. Nun will ich einen andern Herrn bitten, mir ein‘ neue Drehorgel zu geben, und Ihr sollt mir sagen, wer’s am ersten tut!«
Der Herr Kaplan suchte den armen, lahmen Peter zu trösten. So leicht, sagte er, ginge es niemals mit der Erfüllung von Wünschen und Gebeten. Denn die Heiligen hätten viel zu tun und könnten sich nicht immer um die einzelnen Menschen bekümmern. Der junge Geistliche sprach sanft und freundlich mit dem Alten, aber dieser machte ein verdrießliches Gesicht.
»Wenn Ihr mir nicht einen andern heiligen Mann sagen könnt, der mir meine Bitten erfüllt, dann geh‘ ich zum Herrn Dechanten. Der ist neulich an mir vorübergegangen und hat mir einen Groschen geschenkt!«
Da lächelte der Kaplan unwillkürlich, holte ein Zwanzigpfennigstück aus seiner Tasche und reichte es dem Orgelpeter. Dann blickte er sich in seinem bescheiden eingerichteten Zimmerchen um, nahm ein Bild von der Wand und reichte es Peter. »Dies ist das Bild des Aloysius,« sagte er. »Du weißt doch, Peter, daß der heilige Aloysius der Schutzpatron aller ehrsamen Junggesellen ist? Er ist auch eines schrecklichen Todes gestorben, weil er sich nicht verheiraten wollte. Ich will dir das Bild schenken, Peter. Vielleicht hilft dir der heilige Aloysius.« Der Orgelpeter nickte zufrieden und brummte nur einen unverständlichen Dank. Dann nahm er das eingerahmte Bild unter den Arm, steckte das Zwanzigpfennigstück in die Tasche und ging nach Hause.
Dort schlug er in seinem armseligen Zimmerchen einen Nagel in die Wand, über dem Platze, wo die alte Drehorgel stand, und hing den heiligen Aloysius daran auf. Er war sehr stolz auf seinen neuen Heiligen, und sein Freund Fridolin mußte gleich kommen und den neuen Zimmerschmuck bewundern. Fridolin war ein kleiner achtjähriger Junge, der mit seiner Mutter in demselben Häuschen mit Peter wohnte. Er hatte noch niemals über Peter gelacht, oder über die arme Orgel gespottet. Und deshalb empfand der alte Mann soviel Zuneigung zu dem Knaben, wie überhaupt Platz in seinem alten, vertrockneten Herzen war. Fridolin betrachtete also ehrfürchtig das Bild des guten Heiligen. Aber er war in Hunger und Kummer groß geworden und daher für sein Alter altklug und mißtrauisch.
»Der Aloysius hat viel zu tun in der Welt!« meinte er, nachdem er sich eine Zeitlang besonnen. »Ich hab schon von ihm gehört. Aber die Mutter sagt, das Heiraten kommt aus der Mode, denn alle Männer wollen Junggesellen bleiben! Paß nur auf, Peterchen, daß du deine Worte schön stellst, sonst hört dich der Aloysius nit!«
Aber Peter war überzeugt, daß der Heilige nur auf eine Gelegenheit wartete, um ihm einen Gefallen zu tun. Und daß er in den nächsten Tagen eine neue Drehorgel erhalten werde. Daher brummte er nur in den Bart, daß der Fridolin ein dummer Bub sei und von dem heiligen Aloysius durchaus nichts wissen könne. In demselben Augenblick rief die Mutter des Knaben von unten her. Und Fridolin, welcher nicht allein zur Schule ging, sondern in den Mußestunden Lumpen und Knochen sammelte, verließ den alten Peter, um seinem Gewerbe nachzugehen.
In den Straßen der kleinen Stadt spielten täglich viele Kinder, so daß man unwillkürlich denkt, alle Knaben und Mädchen hätten nichts anderes zu tun, als zu kreiseln, Versteck zu spielen, oder mit Steinen das Obst von den Bäumen herabzuwerfen. Aber Fridolin spielte niemals. Er mußte seiner Mutter bei allen häuslichen Hantierungen helfen. Und wenn sie ausging, um Lumpen und Knochen zu verkaufen, dann wartete er sein jüngstes Schwesterchen. Manchmal leistete der Orgelpeter ihm dabei Gesellschaft. Aber seitdem er das Bild des heiligen Aloysius bekommen hatte, bekümmerte er sich nicht mehr um Fridolin und erwartete täglich seine neue Orgel.
Aber der Heilige mußte wirklich viel zu tun haben, denn obgleich Peter ihn seit dem Frühjahr inständig um die Gewährung seines Wunsches bat, so verging doch der ganze Sommer, ohne daß er sich auch nur das geringste merken ließ. Es wurde Herbst. Und an den Bergabhängen brannten schon die Feuer vom Kartoffelkraut, aber Peter wartete noch immer auf seine neue Orgel. Er wurde recht ungeduldig und mürrisch. Und als er eines Tages wieder vor dem Heiligenhäuschen am Tor saß und bitterlich weinte, da sammelte sich eine ganze Menschenschar um ihn und hörte, halb mitleidig, halb lachend, seine traurige Geschichte. Das Bild des heiligen Aloysius war von der Wand auf seine Drehorgel gefallen, Rahmen und Glas waren zersplittert. Und auch das Angesicht des Heiligen hatte Schaden genommen.
Nun war es klar: die Heiligen im Himmel bekümmerten sich nicht um den Orgelpeter und wollten von seiner Bitte nichts wissen. Der Alte schluchzte laut, als er an diesen Satz kam. Und man merkte es ihm an, wie sehr ihm die Sache zu Herzen ging. Er wollte sich auch nicht trösten lassen, als ihm eine oder die andere mitleidige Seele ein kleines Geldstück in die Hand drückte. Stundenlang saß er an derselben Stelle, immer wieder sein Leid erzählend. Zuletzt war er ganz allein, denn die meisten Leute haben nicht viel Zeit, auf die Klagen anderer zu hören. Peter wunderte sich auch nicht darüber. Er war gewohnt, schlecht behandelt und vergessen zu werden und fuhr erschreckt zusammen, als lange nachdem die Dunkelheit hereingebrochen, eine kleine Hand sich auf seine Schulter legte.
»Peterchen, komm heim!« sagte Fridolins atemlose Stimme. »Wir haben Kartoffeln zu Abend gegessen, und in meiner Tasche sind noch vier Stück! Komm, nimm sie; ich bin ganz satt!«
Der Orgelpeter nahm die dargebotene Gabe schweigend und ohne Dank; aber er fühlte sich doch etwas getröstet.
»Was soll ich heimkommen?« fragte er klagend. »Deiner Mutter bin ich die Miete für acht Wochen schuldig. Und bald wird sie mich auf die Straße werfen, denn vor meiner Orgel laufen die Leute fort! Ach, du heiliger Aloysius, was hab ich dir doch getan, daß du mich so verachtest!«
Der Alte war aufgestanden und humpelte stöhnend die steinige Straße hinauf; Fridolin aber ging nachdenklich neben ihm her.
»Weißt du, Peterchen,« sagte er, »ich hab noch von einem gehört, den man bitten kann –’s ist kein Heiliger!«
Peter schüttelte den grauen Kopf. »Laß mich in Ruh‘!« sagte er mürrisch. »Ich will niemand mehr bitten, denn so dumm bin ich auch nit, daß ich nit merke, wie die hohen Herren mit mir nix im Sinn haben! Mein bissel Brot will ich mir zusammenbetteln, und mein‘ alte Orgel kann ich im Ofen verbrennen. Dann leg‘ ich mich hin und sterbe – so ist alles aus!«
»Es ist aber gar kein hoher Herr, den du bitten sollst!« rief Fridolin eifrig. »Das ist ja das Christkind, was ich mein‘! Und es hat in einer Krippe gelegen. Aber um Weihnacht kommt’s immer wieder auf die Erde. Und wer es recht von Herzen um was bittet, der bekommt’s gleich. Und ich will das Christkind um eine neue Hose bitten!« setzte Fridolin triumphierend hinzu.
Mittlerweile waren beide vor ihrer Hütte angelangt, und kopfschüttelnd sagte er: »Das Christkind ist nix für mich! Das ist noch niemals zu mir gekommen. Ich bin alt und lahm und verdrießlich, da mag niemand um mich sich bekümmern!«
Fridolin antwortete nicht. Er sah nur mit glänzenden Augen in den dunkeln Sternenhimmel über ihm. Er glaubte ans Christkind, obgleich es ihm noch niemals etwas gebracht hatte. Der Orgelpeter aber ging in sein dunkles, kaltes Zimmer, warf sich auf seinen Strohsack und versuchte einzuschlafen. Es gelang ihm aber nicht, – er mußte unwillkürlich an das Christkind und dann an Fridolin denken. Der Junge hatte ihm von seinen Kartoffeln abgegeben und war doch sicherlich noch hungrig gewesen. Ja, der Fridolin besaß ein gutes Herz. Und wenn es noch Gerechtigkeit gab, dann mußte das Christkind auch etwas für den Kleinen tun. Aber es gab ja einmal keine Gerechtigkeit, und mit diesem traurigen Gedanken schlief Peter ein.
In den darauf folgenden Wochen ward der Orgelpeter immer wortkarger und stiller, und oft ging er aus ohne seine Orgel. Manchmal schlich er in der Stadt von Haus zu Haus. Öfters aber humpelte er auf die umliegenden Dörfer und kam erst spät heim. Fridolin wunderte sich im stillen. Aber er hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn er mußte für die Schule lernen und für seine Mutter arbeiten. Oft dachte er an das Christkind, denn die Weihnachtszeit rückte näher. Und der Lehrer in der Schule erzählte immer neue und immer schönere Geschichten.
So war es Dezember geworden, und die Sonne schien hell auf die runden Kuppen der Eifelberge. Auf dem Hochsimmer lag etwas Schnee und glitzerte wie lauter Diamanten. Der Orgelpeter, wie er noch immer genannt ward, obgleich er seine Orgel nicht mehr spielte, saß am Rande des Weges und betrachtete aufmerksam ein Spielzeug, das er in seinen krummen Fingern hielt. Es war ein großer Kreisel, dem aber die Spitze fehlte. Er murmelte allerhand verdrießliche Worte in sich hinein und merkte gar nicht, daß jemand vor ihm stand, bis er angeredet ward. Da fuhr er erschreckt auf und riß seine Kappe vom Kopfe, denn es war der Herr Landrat, welcher ihn eben begrüßt hatte.
»Nun, Peter, wie geht es dir?« fragte er. Der Angeredete sank auf seinen Sitz zurück und stöhnte: »Wie soll’s gehen? Schlecht geht’s, Herr Landrat. Und ich geh‘ oft hungrig zu Bett, denn die Heiligen sind mir bös. Ich weiß aber nit warum!«
»Haben sie dir deine Orgel noch nicht gegeben?« fragte der Landrat mit leichtem Lächeln, und Peter »Die krieg‘ ich auch nimmer, Herr Landrat. Das weiß ich schon, und ich muß mich drein finden. Aber weil der Fridolin sich so närrisch aufs Christkind freut, wollt‘ ich was für ihn betteln. Denn der Junge ist gut zu mir. Ich krieg‘ auch allerhand Gerumpel, aber die Hose, Herr Landrat, die Hose! Das ist eine üble Sach‘, denn kein Mensch hat mir noch eine geschenkt!«
Peter war ganz eifrig geworden, man merkte ihm an, daß die Sache ihm Sorge machte, und der Landrat sah ihn wieder lächelnd an. »Nun, quäle dich nicht allzusehr,« meinte er, »wer weiß, was das Christkindchen tut!« Er ging, und Peter sah ihm kopfschüttelnd nach. »Der tut auch, als ob das Christkind alles könnte!« murmelte er, und dann humpelte er der Stadt zu.
So kam das Weihnachtsfest heran. In vielen Häusern wurden Kuchen gebacken, und Peter empfand die Mildtätigkeit der Menschen, denn er bekam mancherlei Nützliches für Fridolin geschenkt. Eine Hose aber war nicht darunter, und daher haderte Peter ziemlich unverhohlen mit dem Christkinde, als er ein ganzes Paket voller Sachen zu Fridolins Mutter brachte.
»Du hättest gern an die Bux denken können!« murmelte er, als er die dunkle Treppe hinabstieg. »Aber ich weiß schon: mir tut kein Mensch im Himmel einen Gefallen – bin wohl zu elend und zu lahm! Na, es muß sich alles helfen!«
Dieser letzte Satz war Peters Trostspruch geworden. Er brauchte ihn bei allen Gelegenheiten und wollte ihn auch Fridolins Mutter sagen. Diese aber ließ ihn gar nicht zu Worte kommen, denn sie war so überrascht über die Kreisel, Peitschen, Bilderbücher und Holzpferdchen, welche Peter bei sich aufgespeichert hatte, daß sie in Tränen ausbrach und seine Entschuldigung über die fehlende Hose gar nicht hörte. Peter aber wurde ganz verdrießlich und ging brummend aus die Straße.
In der Kirche läuteten die Glocken, denn es war Christabend. Der Schnee knarrte unter den groben Stiefeln des Orgelpeters, der langsam zu der evangelischen Kapelle schlich. Fridolin hatte ihm gesagt, daß dort ein Weihnachtsbaum brenne, und den wollte er doch gern einmal sehen. So war es denn auch. Aus den schmalen Kirchenfenstern leuchteten viele Lichter in die Dunkelheit hinaus, und die Orgel spielte eine volle, kräftige Melodie. Da war es dem Peter ganz andächtig zumute, und er vergaß, daß er eben noch mit dem Christkinde unzufrieden gewesen. Fridolin hatte schon früher vor der Kirche gestanden. Jetzt stellte er sich neben Peter und sprach: »Siehst du, Peterchen, jetzt kommt das Christkind vom Himmel!« Peter sah starr in den Lichtschein. »Warum kommt es aber zuerst zu den Evangelischen?« fragte er mißtrauisch; doch Fridolin lachte.
»Das Christkind kommt überall auf einmal hin, zu allen Menschen. Es kommt auch zu dir. Peterchen!«
Aber Peter schüttelte den Kopf. »Zu mir ist’s noch nimmer gekommen, Bub‘; noch nimmer. Weißt wohl nit, wo ich wohn‘!« Und er seufzte unwillkürlich.
So saßen denn die beiden eine Zeitlang zusammen auf einem Eckstein und sahen in die Lichter des Christbaumes. Nach einer Weile jedoch erloschen sie, auch die Musik verklang, und alles ward still und dunkel. Da lief Fridolin davon. Er hatte seiner Mutter heute morgen ein Weißbrot kaufen müssen, und er sehnte sich, es zu probieren. Peter folgte ihm langsam und leise stöhnend. Der Wind blies kalt um die Straßenecken und prickelte seine lahmen Glieder wie mit tausend Nadelstichen. Als er bei den vielen erleuchteten Fenstern vorüberkam, seufzte er kummervoll: »Christkindchen, Christkindchen, warum bist du doch kein einzigmal zu mir gekommen? Schau her, ich bin zwar alt und tauge nit viel, aber einmal hättest du doch kommen können; bloß einmal, Christkindchen!«
Aber es schien, als ob das Christkind taub geworden. Es antwortete wenigstens nicht auf Peters Anrede. Und dieser kroch langsam die Stufen zu seiner Kammer hinauf. – Von unten her hörte er Fridolin lachen und jubeln. Der schien mit dem Christkind zufrieden, obgleich sein Herzenswunsch, die neue Hose, nicht erfüllt war. Oben vor Peters Tür war es ganz dunkel; langsam öffnete er die Kammertür. Plötzlich blieb er wie erstarrt stehen.
Ein großes Wachslicht brannte in seinem Stübchen, und mitten darin stand eine neue, große Drehorgel. Sie war blank poliert und hatte blanke Griffe, ein Gestell und eine große Kurbel. Obenauf lag ein Brief, aber Peter hatte nie lesen gelernt, und es war ihm auch einerlei, was in demselben stand. Langsam, mit aufgehaltenem Atem schlich er näher. Seine Augen wurden immer größer, als er nach der Kurbel griff und versuchte, diese vorsichtig zu drehen. Aber als der erste kräftige Ton eines Volksliedes durch sein Kämmerlein drang, da fiel er auf die Knie und schluchzte laut.
»Ach, du liebes Christkindchen, bist du doch zu mir altem Mann gekommen! Nimmer, nimmer kann ich dir genug danken!«
Er weinte noch, als Fridolin plötzlich vor ihm stand. Des Knaben Wangen waren hoch gerötet vor Aufregung.
»Peterchen!« rief er. »Siehst du wohl, daß das Christkind zu dir gekommen ist! Und mir hat’s so viel, so viel gebracht! Heute abend hat’s der Mutter noch einen neuen Anzug für mich geschickt, und kein Mensch weiß, wer ihn abgegeben! Peterchen, Peterchen, bist du aber nit froh?«
Peter aber war noch immer wortlos. Er ließ sich zwar später von Fridolin vorlesen, daß viele gute Menschen gesammelt hätten, um ihm eine neue Orgel zu kaufen, aber er hörte nur halb hin. Noch spät in der Nacht, als alles zur Ruhe gegangen, stand er an seinem kleinen Fensterchen und sah in den schwarzblauen Himmel, an dem vieltausend Sterne funkelten.
»Christkindchen!« sagte er endlich wieder, »sei mir nit bös, wenn ich früher nit so recht an dich glaubte. Jetzt weiß ich, daß du besser bist als alle Heiligen! Ich aber will nimmermehr an dir zweifeln!« –
So hatte denn Peter eine neue Orgel, und wenn er es auch nicht verstand, den Leuten, welche sie ihm gekauft, so recht von Herzen zu danken – er meinte nämlich, es sei genug, dem Christkinde dankbar zu sein –, so freuten sich doch alle über seine große Glückseligkeit. Jeder wollte gern die neue Orgel hören. Und der Orgelpeter verdiente manchen Groschen, so daß er sich bald einen neuen, warmen Kittel kaufen konnte und auch nicht mehr hungrig zu Bette ging. So kam er denn allmählich in eine ganz friedliche, fröhliche Stimmung, war niemals mehr verdrießlich und ließ sich vieles von Fridolin erzählen, der sehr fleißig zur Schule ging und dabei doch noch Zeit fand, dem Peter Gesellschaft zu leisten.
So verging der Winter, und der Sommer kam wieder. Der tat dem Orgelpeter gut, denn obgleich die Orgel ihn ausreichend ernährte, so wurden seine alten Beine immer schwächer, und er konnte oft nicht warm werden, selbst im warmen Sonnenschein. Aber er klagte niemals mehr. Oft saß er ganz still vor seiner neuen, schönen Orgel und streichelte sie leise, oder er hatte die Hände gefaltet und sah in den blauen Himmel. So kam der Herbst und die Novemberstürme, und Fridolin hatte den Kopf wieder voll von Wünschen fürs Christkind. Er war eigentlich unbescheiden geworden und wünschte sich jetzt ganz unverfroren einen neuen Anzug. Peter sagte nichts dazu. Er war immer einsilbiger geworden, und es schien, als wenn seine Gedanken nicht bei dem weilten, was der Kleine sprach. Aber als Fridolin ihn dringend fragte, ob er sich dieses Jahr denn gar nichts vom Christkinde wünschte, lächelte der alte Mann geheimnisvoll.
»Doch, Bub!« sagte er, die vor Gicht krummen Finger reibend. »Ich wünsch mir schon was, und es ist ganz was Extras, aber ich sag’s keinem Menschen – auch dir nit!« Und so mußte Fridolin zu seinem Entsetzen und Erstaunen bemerken, daß der Orgelpeter vor ihm ein Geheimnis hatte. Er quälte sich erst förmlich darum, denn er fand das Benehmen Peters unbegreiflich, dann aber vergaß er es über der Vorfreude auf Weihnachten. –
Peter war dieses Jahr gang geschäftig. Er kaufte für seinen kleinen Freund Schiefertafel und Griffelkasten, ein Bilderbuch und eine warme Pelzmütze; aber er selbst ward immer wortkarger. Wenn er in der Stadt seine Orgel spielte, vergaß er sogar manchmal, hinterher sein Geld einzusammeln, und es schien ihm oft ganz einerlei zu sein, ob er einige Groschen mehr oder weniger einnahm. In den letzten acht Tagen vor Weihnacht ging er gar nicht mehr aus, spielte die Orgel für sich ganz allein auf seinem Stübchen, und oft schlief er dabei ein.
Fridolin hatte in dieser Zeit wenig Gedanken für den Orgelpeter, denn er freute sich so unendlich auf das Christkind, daß er alles andere darüber vergaß. Als aber der Christabend kam, bestürmte er Peter mit Bitten, er möge doch wieder mit ihm den Christbaum in der evangelischen Kirche sehen und das Läuten der Glocken hören. Aber Peter schüttelte den Kopf.
»Diesmal nit, Bub!« sagte er. »Ich muß hierbleiben in meinem Kämmerlein, ich darf nit ausgehen!«
»Weshalb nit?« fragte Fridolin, und der alte Mann sah ihn wieder mit einem geheimnisvollen Lächeln an. »Ich muß sehen, ob das Christkindchen mir mein großes Bitten erfüllt.«
»Was hast du es denn gebeten, Peter? sag es doch!« rief der Knabe fast ungeduldig.
Der Orgelpeter lächelte wieder, setzte sich auf die Holzbank und lehnte den Kopf an seine Orgel. »Weißt,« sagte er leise, »ich wollt’s dir eigentlich erst hinterher sagen, aber vielleicht schadet’s auch nix, wenn ich vorher davon sprech‘: Ich hab das Christkindchen gebeten, einmal zu mir in mein Kämmerlein zu kommen. Ich wollt’s so gern mal genau anschauen,« setzte er in einem halb entschuldigenden Tone hinzu, »und ich mein‘, es tut mir schon den Gefallen. Ist ja so gut im vorigen Jahr zu mir gewesen, es wird auch diesmal mir seine Gnad‘ nit versagen!«
Er hielt inne und sah Fridolin an. Dieser aber vermochte vor Erstaunen nichts zu sagen. Dann fuhr Peter bewegt fort: »Ich hab ihm so viel zu sagen. Denn ich bin früher ein böser Kerl gewesen und hab mir nit viel aus der Kirche und den Heiligen gemacht. Da wollt ich denn das Christkind bitten, ein gutes Wort für mich einzulegen – –«
Peter schwieg still. Er hatte mehr gesprochen, als seit langer Zeit – jetzt schien er müde zu sein, denn er schloß die Augen. Fridolin aber ging auf den Zehenspitzen aus der Stube und die Treppe hinunter, und erst als er auf der Straße war, dachte er an den Weihnachtsbaum und das Glockengeläut. Dann, als er wieder wie im vorigen Jahr auf einem Prellstein stand und in den Lichterbaum sah, blickte er halb ängstlich um sich, als wenn das Christkind dicht hinter ihm stände. Aber es war alles wie sonst, und als er endlich halberstarrt nach Hause kam, fand er die Gaben des himmlischen Kindes in so reichem Maße vor, daß er alles vergaß, auch seinen Freund, den Orgelpeter, obgleich dieser ihm doch das meiste gegeben hatte. –
Endlich lief er nach oben, mit lauter Stimme nach Peter rufend. Dieser aber antwortete gar nicht, und in seinem Stübchen war alles dunkel. Erst als die Mutter mit Licht kam, sahen sie den alten Mann ruhig und mit gefalteten Händen vor seiner Orgel sitzen. Er hatte ein friedliches Lächeln auf den Lippen und sah so glücklich aus, als sei ihm etwas ganz besonders Schönes passiert. Aber er konnte niemals erzählen, was es gewesen, denn er war ganz leise und sanft gestorben.
Als Fridolin denselben Abend sich auf sein kleines Lager legte, bedachte er sich erst einen Augenblick und faltete dann die Hände. »Liebes Christkind,« sagte er, »ich danke dir vielmals, daß du den Peter besucht und gleich mitgenommen hast. Ich meinte auch, daß ich was Goldiges durch die Luft fliegen sah, als ich nach Hause kam – das bist du natürlich gewesen. Ich danke dir auch, daß du die Orgel hier gelassen hast, denn ich will gern auf ihr spielen. Aber bitte, mach, daß die Engel dem Peter einmal ihre Orgel leihen, damit er doch auch noch Musik machen kann. Und dann wollte ich dich bitten –« Aber hier fielen dem Fridolin die Augen zu, und er schlief sanft und tief ein. – In der Ferne aber läuteten die Weihnachtsglocken.
Aus: Mein Freund Kaspar und andere Erzählungen, Charlotte Niese, Der Orgelpeter
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