Der heilige Abend von Friedrich Naumann
Es ist der Heilige Abend, die letzten kleinen Lichter brennen noch am Tannenbaum, die Kinder spielen, allmählich ruhiger geworden, mit den neuen Sachen, die Bescherung ist vorbei; ist nun auch aller Weihnachtsgedanke fertig und vorbei? Geht es nun wieder in gleichem Schritt und Tritt durch alle Tage, bis wieder einmal die Lichter angesteckt werden? Ist alle innere Erhebung nur wie der kurze Glanz des Bäumchens auf dem Tisch? Fallen wir nun, nach dem Feste, sofort wieder in unser gemächliches Gewohnheitschristentum, von dem man überhaupt kaum recht weiß, ob es noch Christentum ist? Oder bleibt uns etwas? Und wenn etwas bleibt, so fragt es sich, was dieses Bleibende ist.
Es bleibt ein tiefer Eindruck davon, dass wir Christen eine Brudergemeinschaft sein sollten. Christi arme Krippe lässt uns nicht ganz zur ruhe kommen. Wir hörten in der Kirche singen: „Er ist auf Erden kommen arm, dass er unser sich erbarm und in dem Himmel mache reich und seinen lieben Engeln gleich.“ Diese Liebe ist das heilige Weihnachtsgeschenk, das wir bis ins Innerste hinein fühlen. Jesus, der brüderlichste von allen, die leibhaftige Liebe, ist uns geboren. Er ist vor vielen Jahrhunderten geboren und stirbt nun niemals. Die Liebe ist lebendig und klopft bei uns an, ob wir sie einlassen wollen. Das Weihnachtsfest hat uns wieder gefragt: wollt ihr zum Reiche Gottes gehören, zum Bunde der Hilfe und Liebe?
Ob wir wollen? Ja, Herr, wir möchten wohl, aber es ist uns zu schwer! Wir versuchen es, deine Liebe in unser Leben hineinzusetzen und machen dabei die beständige Erfahrung unserer großen Hilflosigkeit. Wo und wie soll man anfangen, um wirklich Liebe zu üben? Man versucht es mit einzelnen Menschen und merkt, wie viel dazu gehört, auch nur einigen anderen wirklich zu dienen. Hinter den einzelnen, die wir lieben möchten, stehen aber Tausende, grau und massenhaft, arme Menschen, mit armen Seelen.
Liebst du die auch? Oder gehen diese dich nichts an? Ist die Masse nicht da für dich? wie kann man aber die Masse lieben? Soll man sie lieben in Zorn oder in Geduld? Soll man für sie kämpfen oder mit ihr leiden? Oder ist beides zugleich möglich? Was ist überhaupt allgemeine christliche Menschenliebe? Ist es etwas Wirkliches oder haben sich das fromme Leute nur so gedacht? Ach, lieber Heiland, der du aus Liebe in die Welt kamst und aus Liebe starbst, nimm du uns in der Stille der Weihnachtstage ruhig zur Seite und gib uns einen praktischen Unterricht in dem, worin du Meister bist! Herr, lehre uns Liebe haben!
Wenn wir die rechte Liebe hätten, dann würden wir dem Frieden auf Erden näher sein. Wo lebendige Liebe ist, da ist persönlicher innerer Friede, denn da fehlt die Zerrissenheit, die durch Hass und Neid in die Seelen hineinkommt. Wer wirklich liebt, der glaubt an Gott, denn er sieht sein Leben nicht als verloren an. Er hat einen Zweck, eine Aufgabe, er ist nicht ein Spiel des Zufalls und des blinden Ungefährs. Wer Christi Liebe versteht, der hat in sich das Verständnis gewonnen für den Zusammenklang: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!
Er ist herausgenommen aus der Welt der bloßen irdischen Nichtigkeiten. solche Personen aber sind die Vorboten besserer Zustände im menschlichen Gemeinschaftsleben. Aus ihrer Gottes – und Nächstenliebe heraus entwickelt sich ein Geist wahren Christentums, der wie eine seelische Elektrizität von einem auf den andern übergeht, von Eltern auf Kinder weiterströmt, und weiter wirkend viel hartes Menschenmetall schmilzt und viel frohe Botschaft vermittelt. Wir lernen zur heiligen Weihnacht daran glauben, dass auch die Liebe des kleinsten und ärmsten Menschenkindes nicht vergeblich ist zum Herbeiführen des Friedens auf Erden. Dieser Friede, nach dem eine tiefe Sehnsucht in jeder Brust schlummert, ist nicht ohne Kampf zu erreichen, er kommt auch nicht mit einem Male, aber niemand ist, hoch oder niedrig, der ihm nicht dienen könnte, wenn er nur will.
Friedrich Naumann, Der Heilige Abend
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