Dritte Geschichte: Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte
aus: „Die Schneekönigin“ von Hans Christian Andersen
Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kay nicht zurückkehrte? Wo war er nur geblieben? Niemand wusste es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, dass sie ihn seinen Schlitten an einen mächtig grossen hätten binden sehen, der in die Strasse hinein und zu dem Stadttor hinausgefahren sei. Niemand wusste, wo er war, und viele Tränen flossen. Die kleine Gerda weinte so viel und so lange, denn sagte sie, er sei tot, er sei im Fluss ertrunken, der nahe bei der Schule vorbeifloss. Oh, das waren recht lange, finstere Wintertage!
Nun kam der Frühling mit wärmerem Sonnenschein.
„Kay ist tot und fort!“ sagte die kleine Gerda.
„Das glaube ich nicht!“ antwortete der Sonnenschein.
„Er ist tot und fort!“ sagte sie zu den Schwalben.
„Das glauben wir nicht!“ erwiderten diese, und am Ende glaubte die kleine Gerda es auch nicht.
„Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen,“ sagte sie eines Morgens, „die, welche Kay nie gesehen hat. Dann will ich zum Fluss hinuntergehen und den nach ihm fragen!“
Und es war noch ganz früh. Sie küsste die alte Grossmutter, die noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz alleine aus dem Stadttor zu dem Fluss. „Ist es war, das du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine roten Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergeben willst!“
Und es war ihr, als nickten die Wellen so sonderbar. Da nahm sie ihre roten Schuhe, die sie am liebsten hatte, und warf sie alle beide in den Fluss hinein. Aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Es war gerade, als wollte der Fluss nicht das liebste, was sie besass, weil er den kleinen Kay ja nicht hatte. Aber sie glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen habe. So kroch sie in ein Boot, welches im Schilf lag. Sie ging ganz an das äusserste Ende desselben und warf die Schuhe von da in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, welche sie verursachte, glitt es vom Land ab.
Sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen. Doch ehe sie zurückkam, war das Boot über eine Elle vom Lande, und nun trieb es schneller von dannen. Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen. Allein niemand ausser den Sperlingen hörte sie, und die konnten sie nicht an das Land tragen. Aber sie flogen längs dem Ufer und sangen, gleichsam um sie zu trösten: „Hier sind wir, hier sind wir.“ Das Boot trieb mit dem Strom. Die kleine Gerda sass ganz still, nur mit Strümpfen an den Füssen. Ihre kleinen roten Schuhe trieben hinter ihr her; aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt. Hübsch war es an beiden Ufern; schöne Blumen, alte Bäume und Hänge mit Schafen und Kühen. Aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
„Vielleicht trägt mich der Fluss zu dem kleinen Kay,“ dachte Gerda. Da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die grünen, schönen Ufer. Dann gelangte sie zu einem grossen Kirschgarten, in welchem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern war. Übrigens hatte es ein Strohdach, und im Garten standen zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief nach ihnen; sie glaubte, dass sie lebendig seien; aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, denn der Fluss trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter. Da kam eine alte, alte Frau aus dem Hause, die sich auf einen Krückstock stützte. Die hatte einen grossen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
„Du armes, kleines Kind!“ sagte die alte Frau; „wie bist du doch auf den grossen, reissenden Strom gekommen und weit in die Welt hinausgetrieben!“ Und dann ging die alte Frau ganz in das Wasser hinein, erfasste mit ihrem Krückstock das Boot, zog es an das Land und hob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder auf das Trockene zu gelangen, obgleich sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
„Komm doch und erzähle mir, wer du bist und wie du hierher kommst!“ sagte sie.
Und Gerda erzählte ihr alles; und die Alte schüttelte den Kopf und sagte: „Hm! Hm!“ und als ihr Gerda alles gesagt und gefragt hatte ob sie nicht den kleinen Kay gesehen habe, sagte die Frau, dass er nicht vorbeigekommen sei, aber er werde wohl noch kommen. Sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten; die seien schöner als irgendein Bilderbuch. Eine jede könne eine Geschichte erzählen, und die alte Frau schloss die Tür zu.
Die Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren rot, blau und gelb; das Tageslicht schien mit allen Farben gar sonderbar herein, aber auf dem Tisch standen die schönsten Kirschen, und Gerda ass davon, soviel sie wollte, denn das war ihr erlaubt. Während sie ass, kämmte die alte Frau ihr Haar mit einem goldenen Kamm, und das Haar ringelte sich und glänzte herrlich golden rings um das kleine freundliche Antlitz, welches so rund war und wie eine Rose aussah.
Nach einem so lieben, kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt,“ sagte die Alte. „Nun wirst du sehen, wie gut wir miteinander leben werden.“ Und so wie sie der kleinen Gerda Haar kämmte, vergass Gerda mehr und mehr ihren Spielgefährten Kay; denn die alte Frau konnte zaubern. Aber eine böse Zauberin war sie nicht. Sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, steckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträucher aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, möchte sie an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kay erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur denkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier im prächtigsten Flor. Kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda sprang vor Freude hochauf und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging, da bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die waren mit bunten Veilchen gestopft. Und sie schlief und träumte so herrlich wie nur eine Königin an ihrem Hochzeitstag.
Am nächsten Tag konnte sie wieder mit den Blumen im warmen Sonnenschein spielen, und so verflossen viele Tage. Gerda kannte jede Blume; aber wieviel derer auch waren, stets war es ihr doch, als ob eine fehle, allein welche, das wusste sie nicht. Da sitzt sie eines Tages und betrachtet der alten Frau Sonnenhut mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste darunter war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hut wegzunehmen, als sie die andern in die Erde senkte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer beisammen hat!
„Was, sind hier keine Rosen?“ sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte. Ach, da war keine zu finden. Nun setzt sie sich hin und weinte. Aber ihre Tränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch verschwunden war. Und als die warmen Tränen die Erde bewässerten, schoss der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war und Gerde umarmte ihn, küsste die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kay.
„Oh, wie bin ich aufgehalten worden!“ sagte das kleine Mädchen. „Ich wollte ja den kleinen Kay suchen! Wisst ihr nicht, wo er ist?“ fragte sie die Rosen. „Glaubt ihr, dass er tot ist?“
„Tot ist er nicht,“ antworteten die Rosen. „Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Toten, aber Kay war nicht da.“
„Ich danke euch,“ sagte die kleine Gerda und ging zu den anderen Blumen hin, sah in deren Kelche hinein und fragte: „Wisst ihr nicht, wo der kleine Kay ist?“
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen; davon hörte Gerda so viele, viele; aber keine wusste etwas von Kay.
Und was sagte die Feuerlilie? „Hörst du die Trommel: bum! bum! Es sind nur zwei Töne; immer: bum! bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. In ihrem langen roten Mantel steht das Hindu-Weib auf dem Scheiterhaufen. Die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor. Aber das Hindu-Weib denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Auge heisser denn die Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz stärker berührt als die Flammen, welche bald ihren Körper zu Asche verbrennen. Kann die Flamme des Scheiterhaufens ersterben?“ – „Das verstehe ich durchaus nicht,“ sagte die kleine Gerda. „Das ist mein Märchen!“ sagte die Feuerlilie.
Was sagte die Winde? „Über den schmalen Feldweg hinaus hängt eine alte Ritterburg. Das dichte Immergrün wächst um die alten roten Mauern empor, Blatt an Blatt um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen, es beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als dasselbe, keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt schwebt leichter dahin als dieses. Wie rauscht das prächtige Seidengewand. ‚Kommt er noch nicht?‘ “ – „Ist es Kay, den du meinst?“ fragte die kleine Gerda. „Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Traum,“ erwiderte die Winde.
Was sagte die kleine Schneeblume? „Zwischen den Bäumen hängt an Seilen das lange Brett; das ist eine Schaukel. Zwei niedliche kleine Mädchen – die Kleider sind weiss wie der Schnee, lange grüne Seidenbänder flattern von den Hüten – sitzen darauf und schaukeln sich. Der Bruder, welcher grösser ist als sie, steht in der Schaukel. Er hat den Arm um das Seil geschlungen, um sich zu halten, denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der andern eine Tonpfeife. Er bläst Seifenblasen.
Die Schaukel geht, und die Blasen steigen mit schönen, wechselnden Farben empor. Die letzte hängt noch am Pfeifenstiel und biegt sich im Winde. Die Schaukel geh. Der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf den Hinterfüssen und will mit in die Schaukel. Sie fliegt. Der Hund fällt, bellt und ist böse; er wird geneckt, die Blasen bersten. Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang.“ – „Es ist möglich, dass es hübsch ist, was du da erzählst. Aber du sagst es so traurig und erwähnst den kleinen Kay gar nicht.“
Was sagten die Hyazinthen? „Es waren drei schöne Schwestern, gar durchsichtig und fein. Der einen Kleid war rot, das der anderen blau, der dritten ihres ganz weiss. Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondenschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es herrlich, und die Mädchen verschwanden im Wald. Der Duft wurde stärker. Drei Särge, darin lagen die schönen Mädchen, glitten von des Waldes Dickicht über den See dahin. Die Johanniswürmchen flogen leuchtend ringsumher wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen, oder sind sie tot? Der Blumenduft sagt, sie sind Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang!“ –
„Du machst mich ganz betrübt,“ sagte die kleine Gerda. „Du duftest so stark; ich muss an die toten Mädchen denken! Ach, ist denn der kleine Kay wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und die sagen nein!“ – „Kling, klang!“ läuten die Hyazinthen-Glocken. „Wir läuten nicht für den kleinen Kay, wir kennen ihn nicht; wir singen nur unser Lied, das einzige, welches wir kennen.“
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden, grünen Blättern hervorschien. „Du bist eine kleine helle Sonne!“ sagte Gerda. „Sage mir, ob du weisst, wo ich meinen Gespielen finden kann?“ Und die Butterblume glänzte so schön und sah wieder auf Gerda. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht vom Kay. „In einem kleinen Hof schien die liebe Gottessonne am ersten Frühlingstage sehr warm; die Strahlen glitten an des Nachbarhauses weissen Wänden herab. Dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Grossmutter sass draussen in ihrem Stuhl. Die Enkelin, ein armes, schönes Dienstmädchen kehrte von einem kurzen Besuch heim. Sie küsste die Grossmuter; es war Gold, Herzensgold in dem gesegneten Kuss. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!“ sagte die Butterblume.
„Meine arme, alte Grossmutter!“ seufzte Gerda. „Ja, sie sehnt sich gewiss nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kay tat. Aber ich komme bald wieder nach Hause, und dann bringe ich Kay mit. Es nützt nichts, dass ich die Blumen frage, die wissen nur ihr eigenes Lied: Sie geben mir keinen Bescheid.“ Und dann band sie ihr kleines Kleid auf, damit sie rascher laufen könne. Aber die Pfingstlilie schlug ihr über das Bein, als sie darüber hinsprang. Da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: „Weisst du vielleicht etwas‘?“ Und sie bog sich ganz zur Pfingstlilie hinab; und was sagte die?
„Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“ sagte die Pfingstlilie. „Oh, oh, wie ich rieche! Oben in dem kleinen Erkerzimmer steht, halb angekleidet, eine kleine Tänzerin; sie steht bald auf einem Bein, bald auf beiden. Sie tritt die ganze Welt mit Füssen; sie ist nichts als Augentäuschung. Sie giesst Wasser aus dem Teetopf auf ein Stück Zeug aus, welches sie hält. Es ist der Schnürleib; Reinlichkeit ist eine schöne Sache! Das weisse Kleid hängt am Haken. Das ist auch im Teetopf gewaschen und auf dem Dach getrocknet. Sie zieht es an und schlägt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun scheint das Kleid noch weisser. Das Bein ausgestreckt! Sieh, wie sie auf einem Stiele prangt! Ich kann mich selbst erblicken! Ich kann mich selbst sehen!“ –
„Darum kümmere ich mich gar nicht!“ sagte Gerda. „Das brauchst du mir nicht zu erzählen“; und dann lief sie nach dem Ende des Gartens.
Die Tür war verschlossen, aber sie drückte auf die verrostete Klinke, so dass diese abging. Die Tür sprang auf, und die kleine Gerda lief barfüssig in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber niemand war da, der sie verfolgte. Zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen grossen Stein. Als sie sich umsah, war es mit dem Sommer vorbei. Es war Spätherbst. Das konnte man in dem schönen Garten gar nicht bemerken, wo immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten waren.
„Gott, wie habe ich mich verspätet!“ sagte die kleine Gerda. „Es ist ja Herbst geworden! Da darf ich nicht ruhen!“ Und sie erhob sich, um zu gehen.
Oh, wie waren ihre kleinen Füsse wund und müde! Ringsumher sah es kalt und rauh aus; die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Trau tröpfelte als Wasser herab. Ein Blatt fiel nach dem andern ab; nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die waren aber herbe und zogen ihr den Mund zusammen. Oh, wie war es grau und schwer in der weiten Welt!
Hans Christian Andersen, Der Blumengarten bei der Frau, welche zaubern konnte
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