Das Hirtenbüblein

Das Hirtenbüblein von Ludwig Aurbacher

Ein Hirtenbüblein war wegen seiner klugen Einfälle und witzigen Antworten weit und breit bekannt. Von ihm hörte auch eines Tages der Bischof; der ließ ihn sogleich zu sich kommen, um zu erfahren, ob die Leute wahr geredet. Der Knabe erschien vor dem geistlichen Herrn, das Käpplein in der Hand, züchtig in Gebärden und freundlich von Antlitz.

Da sagte der Bischof: er habe von ihm gehört, daß er ein kluger Knabe sey, und er wolle ihm nun zur Probe drei Fragen vorlegen. Wenn er sie gut beantworte, so solle er für jede Antwort einen Goldgulden erhalten. Das war dem Büblein recht. Der Bischof sprach: »Zum ersten sag‘ mir, wie viel Sterne sind am Himmel?« Das Büblein verlangte Tinte, Feder und Papier; denn er hatte fein schreiben und lesen und rechnen gelernt, und Religion obendrein. Dann machte er auf das Papier so viel Tüpflein, als er vermochte, und zeigte drauf das Papier dem Bischof, und sagte: „So viele Sterne sind’s, und nicht mehr.“ Der Bischof sagte: „Wer wird diese Tüpflein alle zählen?“ Das Büblein antwortete: „Der Sterne sind eben auch unzählige.“ Mit dieser Antwort war der Bischof zufrieden, und er gab ihm einen Goldgulden.

Drauf fuhr er fort: „Zum zweiten sag‘ mir: wie viel Tropfen sind im Meer?“ Das Büblein nahm wiederum einen Bogen Papier, und schrieb Zahl an Zahl, so weit das Papier reichte. Das gab er dem Bischof hin, und nahm einen andern Bogen, und schrieb wiederum fort. Der Bischof sagte: „Wenn du so fort schreibst, so kommen wir an kein Ende.“ Das Büblein antwortete: „Und wenn die Quellen und die Flüsse es so forttreiben, so kommen wir mit dem Zählen der Tropfen auch an kein Ende. Wollt Ihr aber machen, daß alle Quellen versiegen und alle Flüsse vertrocknen, so will ich’s sagen, wie viel Tropfen das Meer hat. Anders nicht.“ Mit dieser Antwort war der Bischof wiederum zufrieden, und er gab ihm einen zweiten Goldgulden.

Drauf legte er ihm die dritte Frage vor: „Wie viel Blätter gibt’s auf allen Bäumen, die in der Welt sind? Aber das mußt du mir im Kopf ausrechnen, anders gilt’s nicht.“ Das Büblein war nicht verlegen, sondern sagte: „Wenn ihr alle Blätter, die im Herbst abfallen, wollt abziehen von denen, die im Frühjahr darauf wachsen, so wißt ihr’s ganz genau.“ Der Bischof sagte: „Da bleiben ja keine übrig.“ „Ja,“ sagte das Büblein, „es sind auch keine Blätter auf den Bäumen im Winter.“ Der Bischof mußte lachen, und gab ihm den dritten Goldgulden.

Das Hirtenbüblein bedankte sich. Dann sagte er: „Herr Bischof, erlaubt mir nun noch, daß ich an Euch auch eine Frage stellen darf.“ Der Bischof erlaubte es ihm, und war begierig zu hören. Das Büblein sagte: „Worin gleichen wir beide einander, und worin unterscheiden wir uns?“ Das errieth der Bischof nicht.

Da sagte das Büblein: „Im Katechismus steht, daß Ihr ein Hirt seyd, und Schafe zu hüten habt; darin sind wir einander gleich. Wir sind aber darin von einander unterschieden, daß Ihr ein Oberhirt seyd, und Reichthum und Ehre besitzt. Ich aber bin ein ganz armer Hirtenbube, und habe von beiden nichts. Darum, so bitte ich Euch, nehmet mich in Eure Dienste. Gebt mir Nahrung und Kleidung, und tragt Obsorge für mich.“ Das that denn auch der Bischof; und aus dem armen Hirtenbüblein wurde später ein angesehener und hochstudierter Mann.

Ludwig Aurbacher, Hirtenbüblein-Marianne-Christgeschenke-Röschen

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