Am zweiten Sonntage im Advent

Am zweiten Sonntage im Advent von Annette von Droste Hülshoff

Vom Zeichen an der Sonne:
Und alsdann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit. – Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.

Wo bleibst du, Wolke, die den Menschensohn soll tragen?
Seh ich das Morgenrot im Osten schon nicht leise ragen?
Die Dunkel steigen, die Zeit rollt matt und gleich.
Ich seh es flimmern, aber bleich ach, bleich!

Mein eignes Sinnen ist es was da quillt entzündet,
Wie aus dem Teiche grün und schlammerfüllt sich wohl entbindet
Ein Flämmchen und vom Schilfgestöhn umwankt
Unsicher in dem grauen Dunste schwankt.

So muß die allerkühnste Phantasie ermatten;
So in der Mondesscheibe sah ich nie des Berges Schatten
Gewiß, ob ein Koloß die Formen zog,
Ob eine Träne mich im Auge trog.

So ragt und wälzt sich in der Zukunft Reich ein Schemen.
Mein Sinnen sonder Kraft, Gedanke bleich – Wer will mir nehmen
Das Hoffen, was ich in des Herzens Schrein
Gehegt als meiner Armut Edelstein?

Gib dich gefangen, törichter Verstand! Steig nieder
und zünde an des Glaubens reinem Brand dein Döchtlein wieder!
Die arme Lampe, deren matter Hauch
Verdumpft, erstickt in eignen Qualmes Rauch.

Du seltsam rätselhaft Geschöpf aus Ton mit Kräften,
Die leben, wühlen, zischen wie zum Hohn in allen Säften,
O bade deinen wüsten Fiebertraum
Im einz'gen Quell, der ohne Schlamm und Schaum!
Wehr ab, stoß fort, was gleich dem frechen Feind  Dir sendet
Die Macht, so wetterleuchtet und verneint; und starr gewendet
Wie zum Polarstern halt das eine fest,
Sein Wort, sein heilig Wort – und Schach dem Rest!
Dann wirst du auf der Wolke deinen Herrn erkennen,
Dann sind Jahrtausende nicht kalt und fern, und zitternd nennen
Darfst du der Worte Wort, des Lebens Mark,
Wenn dem Geheimnis deine Seele stark.
Und heute schon, es steht in Gottes Hand, erschauen
Magst du den Heiland in der Seele Brand, glühndem Vertrauen.
Zerfallen mögen Erd und Himmels Höhn,
Doch seine Worte werden nicht vergehn.

Annette von Droste-Hülshoff, Am zweiten Sonntage im Advent

Das Gedicht finden Sie im Buch der Weihnachtsgedichte oder auch hier
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