Der Christbaum vom Karl Rudolph Hagenbach
Ein Vater rüstet seinen Knaben
Zum frohen Fest den Weihnachtsbaum,
Und trunken noch von süßem Traum
Empfangen sie die holden Gaben.
Doch, als im Lauf von wenig Stunden
Der Neuheit Zauberreiz entschwunden,
Hob Karl, der ältre Sohn, zum jüngern Bruder an:
"Nun, weißt du, Fritz! wer dieß gethan?"
I freilich rief der jüng're Sohn,
Das Christkind mit der güld'nen Kron',
Das geht, gesandt vom lieben Gotte,
In stiller Nacht von Haus zu Haus
Und theilt die schönen Gaben aus.
Ja, ja, so sagt's mir Tante Lotte.
"Ei, wie man doch so kindisch denket,
Erwidert ihm der Philosoph
Papa, Mama hat's uns geschenket,
Ich sah ja gestern über'n Hof
Das Aennchen nach dem Christmarkt laufen,
Die schönen Sachen einzukaufen;
Daß es der heil'ge Christ gebracht,
Für kleine Jungen ist's erdacht! "
Betroffen ob der neuen Lehre,
Bewundernd halb des Philosophen Witz,
Doch zweifelnd, ob's dem also wäre,
Läuft hurtig zu dem Vater Fritz.
"Ist's wahr, was mir da Karl berichtet,
Das Weihnachtskindlein sei erdichtet,
Ist's Lüge denn, was Tante lehret,
Der heil'ge Christ hab' uns bescheeret?" —
Der Vater schaut mit stiller Freude
Auf das entzweite Kinderpaar:
Recht haben mögt ihr alle Beide,
Und Jeder spricht im Ganzen wahr.
Du, Karl! du meinst aus meinen Händen
Erhältst die Weihnachtsgabe du?
Wohl doch wie soll der Vater spenden?
Wohl geb' den Beutel ich dazu,
Wohl muß ich schaffen, ringen, laufen,
Bis ich kann auf dem Christmarkt kaufen;
Doch wer giebt mir die edeln Kräfte
Und segnet huldreich mein Geschäfte? —
"Der Segen kommt, spricht Karl, von oben."
Nun gut, der Zweifel ist gehoben.
Ob euch der Christ mit eignen Händen
Die Gaben an das Bäumlein hängt;
Ob gute Eltern sie euch spenden,
Gilt dem gleich, der sie froh empfängt;
Sie bleiben Gottes Weihnachtsgabe,
An der sich Herz und Sinn erlabe.
– – – – – –
Seid ihr nicht auch wie Karl und Fritze,
Gelehrte Männer von der Zunft,
Mit eurem streitgewohnten Witze
Von Offenbarung und Vernunft?
Ob wunderbar vom Geist vernommen,
Ob mittelbar durch Menschenhand
Die Gottesgaben zu uns kommen,
Darüber grübelt der Verstand.
Der Eine nennt es Offenbarung,
Der Andre knüpft’s an die Natur,
Der schaut in eigener Erfahrung,
In fremder der des Wunders Spur.
Durch einen Schlag hervorgerufen
Erscheint dem Einen Gottes Wort,
Und der Entwicklung leise Stufen
Verfolgt der Andre fort und fort.
Doch erst wenn dem geheimen Herzenszunder
Die Flamme der Begeisterung entsprüht,
Natur und Menschheit wie Ein großes Wunder
Im Sonnenglanz der Gottesgnade glüht,
Dann schauen wir in des Bewußtseins Spiegel
Der einen Wahrheit ungeteiltes Bild,
Gehoben ist der Bücher letztes Siegel
Und auch der Räthsel dunkelstes enthüllt.
Mögt ihr’s Vernunft, mögt’s Offenbarung nennen,
Des einen Meisters Wert sollt ihr erkennen.
So bleib‘ euch denn das Suchen unbeneidet,
Wenn Treu‘ ihr am Gefund’nen übt!
Nicht der Verstand, das Herz entscheidet,
Mit dem ihr wählt, mit dem ihr liebt,
Und wie verschieden auch die Gänge,
Die ihr zum Lebensbaume macht,
Wer euch die Gaben auch dran hänge,
Wohl euch, wenn aus der Kinderträume Nacht
Zum freudigen Bewußtsein ihr erwacht:
„Sieh da, des Vaters Weihnachtsgabe,
An der sich ewig Geist und Herz erlabe.“
Karl Rudolph Hagenbach, Der Christbaum
Das Gedicht finden Sie im Buch der Weihnachtsgedichte oder auch hier
Ein anderes Gedicht hier
*
* – Affiliatelinks; bei einem Kauf oder Vertragsabschluss bekomme ich eine Provision
14 Kommentare
Die Kommentare sind geschlossen.